: „Hier wird nicht gebastelt! Wir arbeiten!“
Inklusion Einst war der Alsterdorfer Weihnachtsmarkt die Gelegenheit für die Hamburger, einen Blick hinter die Kulissen der „Alsterdorfer Anstalten“ zu werfen. Heute hat man es geschafft, ein ganz normaler Weihnachtsmarkt unter vielen zu sein
von Frank Keil
Dirk Meyer malt gern Bilder von Hamburg. Und von Tieren. Das mit Hamburg ist klar: Dirk Meyer ist Hamburger, und wie viele Mitarbeiter der Werkstatt „atelier lichtzeichen“, einer Werkstatt von „alsterarbeit“, die wiederum Teil der Stiftung Alsterdorf ist, hält er Hamburg für die schönste Stadt Deutschlands. Und zu den Tieren kam Dirk Meyer, weil der letzte Betriebsausflug der Ateliergruppe in den Zoo von Hagenbeck führte, sodass nun im vorderen Verkaufsbereich des Ateliers Porträts von Kühen und Pferden auf Käufer warten.
An diesem Wochenende öffnet nämlich der traditionelle Weihnachtsmarkt der Stiftung Alsterdorf, und die Werkstätten der Stiftung öffnen ihre Türen noch einmal besonders weit. Die Besucher haben dann nicht nur die Gelegenheit zu überlegen, ob sie etwa Meyers Blick über die Elbe auf die Elbphilharmonie erwerben wollen oder ob sie die Bilder von Jan Thielbeer bevorzugen, der als Könner der sogenannten naiven Malerei noch akribischer schöne Welten zeigt – oder ob sie die südlichen Landschaften von Dorte Siemssen vorziehen.
Interessant ist die Frage nach den Preisen der Kunstwerke: Es geht allein nach der Größe der Leinwand. Denn die Idee, dass jeder und jede, ob psychisch erkrankt oder aufgrund körperlicher oder geistiger Einschränkungen auf Unterstützung angewiesen, gleichermaßen kreativ tätig ist, schließt eine unterschiedliche finanzielle Bewertung der hergestellten Produkte aus – wenn man die Idee ernst nimmt.
Seit 84 Jahren gibt es den Alsterdorfer Weihnachtsmarkt, und in diesen 84 Jahren ist eine Menge passiert. Besonders wenn man den Blick zurück lenkt, als die Stiftung Alsterdorf stadtweit noch unter dem Label „Alsterdorfer Anstalten“ fungierte und wie ein Mix aus Verwahranstalt und Großkrankenhaus arbeitete. Als hier weit über 1.000 Menschen oft in riesigen Schlafsälen untergebracht waren und das Gelände, auf dem dies stattfand, durch eine hohe Backsteinmauer vom übrigen Stadtteil abgeteilt war, ein Ghetto im Stadtteil sozusagen. Und als noch am Eingangstor einem der Pförtner den Weg zeigte oder auch verwehrte, wenn er der Meinung war, das man hier nichts zu suchen hatte.
Damals war der Alsterdorfer Weihnachtsmarkt, der traditionell nur am Wochenende des ersten Advents stattfindet, eine Brücke der Bewohner in die sogenannte normale Welt. Denn so konnten sie dieser zeigen, über welche Fähigkeiten und Fertigkeiten sie tatsächlich verfügten. Auch war der Markt eine Brücke, auf der die Bewohner der sogenannten normalen Welt neben dem Sommerfest und dem Tag der offenen Tür gehen konnten, um zu schauen, was die behinderten Menschen, die hier in den Wohnhäusern untergebracht und in den auf dem Gelände verteilten Werkstätten arbeiteten, herstellten und wie sie lebten.
„Wir verkaufen hier Handarbeiten unserer Mitarbeiter und unser Pflegebefohlenen.“ Diesen Spruch auf einem Banner entdeckt man etwa auf einem Fotodokument aus dem Jahr 1962. Der öffentliche Weihnachtsmarkt dürfte damals aber auch für die Anstalt als Institution eine Wirkung gehabt haben: Mit ihm begann ganz offiziell die Weihnachtszeit, in der der sonst so streng reglementierte Anstaltsalltag ein klein bisschen gelockert wurde. Und für den einen und anderen eröffnete sich womöglich die Chance, Weihnachten nicht in seinem Schlafsaal, sondern daheim bei seiner Familie zu verbringen, um so für wenigstens einen Abend, vielleicht auch für zwei, drei Tage dem Anstaltstrott zu entkommen.
Das ist – wie gesagt – lange her. Heute ist der Alsterdorfer Weihnachtsmarkt ein ganz normaler Weihnachtsmarkt. Es wird Bratwurst und Punsch und Waffeln geben; es gibt die Möglichkeit einer Kutschfahrt. Ein Horn-Quartett und ein Akkordeon-Trio werden auftreten. Der Komiker Werner Momsen ist dabei, und Stiftungsdirektor Hanns-Stephan Haas wird aus seinem Krimidebüt „Handicap mit Todesfolge“ lesen, während die Werkstätten geöffnet haben. Schauplatz des Geschehens: der Alsterdorfer Markt, in den letzten Jahren so umgebaut, dass hier Geschäfte für den täglichen Bedarf sich nahtlos an die Werkstätten anschließen, ohne dass man von außen sofort einen Unterschied sieht.
Geschätzte 15.000 Besucher werden sich auf die zwei Tage verteilen, eine stattliche Zahl. Aber es waren schon mal 40.000. Aber wo die Stadt immer voller und immer enger bebaut wird, bleibt man auch weihnachtsmarktmäßig eher in seinem Quartier. „Es gibt natürlich noch Leute, die von weit her kommen, weil sie das schon immer getan haben, aber ihre Zahl wird niedriger“, sagt Arndt Streckwall von der Öffentlichkeitsarbeit der Stiftung Alsterdorf.
Im Gegenzug steige die Zahl derjenigen, die aus der unmittelbaren Nachbarschaft kämen und mit der Geschichte der Stiftung gar nicht so vertraut seien. „Die können das gar nicht glauben, wenn sie erfahren, dass das Gelände, das sie selbstverständlich überqueren und wo sie einkaufen gehen, mal mit einer Mauer und mit Stacheldraht eingezäunt war“, so Streckwall.
Denn so, wie die einstigen Bewohner das frühere Anstaltsgelände nach und nach verlassen haben und heute selbstverständlich irgendwo allein oder zu zweit oder in Wohngruppen über die Stadt verteilt leben und daher morgens wie alle anderen ganz normal zur Arbeit kommen oder abgeholt werden: So sind umgekehrt neue Bewohner nach Alsterdorf gekommen und haben diesen Stadtteil, in dem man dank einer guten U- und S-Bahn-Anbindung an die Innenstadt gut wohnen kann, für sich entdeckt.
„Für sie sind wir ihr lokaler Weihnachtsmarkt, und er ist im Grunde nichts so Besonderes“, sagt Streckwall. Und er ergänzt: „Früher waren in der ganzen Stadt Hinweise auf unseren Weihnachtsmarkt zu finden, berichteten die Medien – ob Zeitung, Fernsehen oder Radio – jedes Mal ausführlich. Heute sind wir ein Weihnachtsmarkt unter vielen und müssen uns entsprechend die Aufmerksamkeit teilen.“ Und genau so soll es ja auch sein.
Und so ist auch für die Beschäftigten in den Werkstätten der jährliche Weihnachtsmarkt zwar kein unwichtiges Datum, aber er ist eben nicht mehr das zentrale Ereignis. „Wir bieten das an, was wir das ganze Jahr in unserer Werkstatt herstellen; wir stellen hier nichts extra für Weihnachten her“ – das ist unisono in den Werkstätten zu hören. In der Keramikwerkstatt genauso wie in der Kerzenwerkstatt zwei Etagen höher.
Und wie überall gehe der Trend bei den Kunden dahin, Unikate zu finden; Besonderes, keine Massenware. Und auch sonst – das übliche Gebaren der Kunden: „Das, was bei uns im letzten Jahr gut ging, wird vielleicht in diesem Jahr überhaupt nicht nachgefragt, aber im Jahr drauf wollen es dann alle wieder haben“, sagt etwa Reinhold Knabe, Beschäftigter in der Keramikwerkstatt. Und ganz wichtig: „Wir arbeiten hier. Hier wird nicht gebastelt!“
Geschäftige Routine auch ein ganzes Stück weiter weg, im Stadtteil Langenhorn, wo ein Ableger von „alsterfemo“, der wiederum zur gemeinnützigen GmbH „alsterarbeit“ gehört („femo“ steht für Fertigung und Montage) zu finden ist. Mit einer Montagewerkstatt, mit einer Schlosserei, aber auch mit einer Filzwerkstatt, die selbstverständlich mit ihren Filzprodukten beim Weihnachtsmarkt dabei sein wird. Das Meiste steht schon transportbereit in Kisten und Kästen bereit: Schlüsselanhänger, Taschen für jede Gelegenheit, die obligaten Handyhüllen nicht zu vergessen.
Doch mehr als auf Weihnachten freut man sich hier auf das kommende Jahr: Dann wird man das doch etwas triste Gebäude in dem doch etwas tristen Langenhorner Industriegebiet endlich verlassen können. Wird nahe des Poppenbüttler Einkaufszentrums ein eigenes Ladengeschäft mit breiter Fensterfront führen, wird hier seine eigenen Mitarbeiter schulen, wird Kurse anbieten und nicht zuletzt seine Produkte werktäglich zum Verkauf anbieten. Wird wie ein ganz normales Geschäft agieren – und dann eben von Poppenbüttel aus einmal im Jahr auch den Alsterdorfer Weihnachtsmarkt bestücken.
84. Alsterdorfer Weihnachtsmarkt: 28. und 29. November, je 11 bis 18 Uhr; Alsterdorfer Marktplatz
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