: Hand- und Kopfarbeit
Besuch bei der Buchhändlerin Bettina Wassmann
VON GABRIELE GOETTLE
Bettina Wassmann, Buchhändlerin u. Verlegerin in Bremen. 1948 Einschulung i. d. Volksschule/Horn. 1958 Mittlere Reife. 1958–1961 Ausbildung z. Buchhändlerin, Buchhandelslehre bei Rodewald in Bremen. 1961–1969 Arbeit als Buchhändlerin in Wolffs Bücherei, Berlin, Bundesallee 133. Mai 1969 Rückkehr n. Bremen. Juli 1969 Eröffnung d. eigenen Buchhandlung in Bremen, Am Wall 164. Herausgabe von bibliophilen Büchern im Eigenverlag. Künstlerische Gestaltung d. einzelnen Buchstaben d. Alphabets (im Briefmarkenformat auf Bögen). Buchtitel d. Verlages u. a.: Djuna Barnes: „Der perfekte Mord“; Detlev Claussen: „Abschied von gestern. Kritische Theorie heute“; Jochen Hörisch: „Das Abendmahl, das Geld und die neuen Medien“; Hermann Melville: „Bartleby, der Schreiber. Eine Geschichte aus der Wall-Street“; Oskar Negt: „H. c. Alfred Sohn-Rethel“; Alfred Sohn-Rethel: „Das Ideal des Kaputten“. Bettina Wassmann wurde 1942 in Plauen im Vogtland geboren (wohin d. Familie sich v. d. Bombardierung Bremens in Sicherheit gebracht hatte). Ihr Vater war Baumwollhändler (Baumwoll-Börse Bremen), die Mutter Künstlerin. Bettina Wassmann war mit Alfred Sohn-Rethel verheiratet (der 1990 starb).
Zum besseren Verständnis Alfred Sohn-Rethels will ich versuchen, ihn in einem Miniaturporträt hier kurz vorzustellen. Er war 1899 geboren, Gelehrter, ohne weltfremd zu sein, Erkenntnistheoretiker und exzellenter Marx-Kenner. Von allen Marxisten war er wohl der originellste. Seit den 20er-Jahren arbeitete er an den Hauptthesen seiner materialistischen Erkenntnistheorie und -kritik, kam aber erst in den 70er-Jahren zu Abdruck, Bekanntheit und Ehrungen. Er hat sich weder durch die vernichtende Kritik Horkheimers noch durch das hohe Lob Adornos von seinen Überlegungen abbringen lassen und arbeitete bis ins hohe Alter als unbeirrbarer Außenseiter an seiner ketzerischen Theorie vom Geld. Mit wahrer Engelsgeduld bewies er seine These, dass sich die Denkform aus der Warenform entwickelt, dass das Transzendentalsubjekt sich der eigentümlichen Form der Ware, des Tauschs und des Geldes verdankt, dass der Ursprung des reinen Denkens in der Warenform liegt und nicht umgekehrt. Er ist mit hartnäckiger Ausdauer der Bildung des Begriffs nachgegangen, dem Geld als bare Münze des Apriori, der Tauschabstraktion. Es ist ihm gelungen, das Geheimnis der Transzendentalphilosophie zu entschleiern durch die Entdeckung des Transzendentalsubekts in der Warenform. Aus dem akribischen Lüften dieses Schleiers besteht sein Lebenswerk.
Der Buchladen von Bettina Wassmann liegt in der Innenstadt Bremens, am Wall, einer sich lang und bogenförmig dahinziehenden Geschäftsstraße, in der neben Kunsthalle, Anwaltsverein und Oberverwaltungsgericht unter anderen auch Galerien, Mode- und Designgeschäfte, Restaurants, Cafés, Antiquitätenhändler, Bibliotheken und das Friedensbüro für Kriegsdienstverweigerer residieren. Gegenüber der Geschäftsmeile erstreckt sich ein Park, die Wallanlage, mit ihren im Zickzack der ehemaligen Zitadellenform verlaufenden Wassergräben. Diese unscheinbare Grünanlage war die erste öffentliche Parkanlage Deutschlands.
Am Wall 164 liegt hinter einem Jugendstilfenster der winzige Buchladen mit seiner kunstvoll dekorierten Auslage. Die seitlich liegende Glastür ist schwer und schließt nicht von selbst. Innen ist es eng, aber nicht überfüllt. Es gibt keine Bücherstapel in der Ecke, die jeden Moment umzufallen drohen, es ist nicht kruschelig, jedes Ding scheint seinen Platz gefunden zu haben. In den schwarzen deckenhohen Regalen stehen, sorgfältig ausgewählt und präsentiert, laufende Titel und Neuerscheinungen. Daneben die Bücher aus der eigenen Produktion und selbstverständlich die Klassiker wie Adorno, Horkheimer, Benjamin, Marcuse, Lukács, Bloch, Sohn-Rethel. In einer robusten Fächermappe sind die Briefmarkenbögen des Alphabets einsortiert, hinter den Glasscheiben der beiden schwarzen Vitrinenschränke hängen Zeitungsausschnitte und Fotos, ich erkenne Meret Oppenheim und Alfred Sohn-Rethel. Es gibt eine große Papierrolle in einem zierlichen Metallgestell, das sowohl hält als auch schneidet.
Wir werden freundlich aufgefordert, in den schmalen Lücken Platz zu nehmen. Bettina Wassmann füllt die Kaffeetassen aus einer Thermoskanne, stellt sie auf die Marmorplatte des Verkaufspults neben den Computer und erzählt, dass sie nun schon 36 Jahre lang diesen Buchladen führt.
„Er war mal größer, es gab eine Treppe nach oben. Das war die große Zeit des Ladens – der Buchläden überhaupt. Anfang der 70er-Jahre war das ja virulent, es gab einen unglaublichen Lesehunger durch die allgemeine Politisierung, durch die Studentenbewegung, und ich gehörte natürlich mit zu den Gründern der politischen Buchhandlungen, des linken Buchhandels, der sich rasch entwickelte. Diese Zeit war unglaublich lebhaft und optimistisch, aber natürlich macht so ein Laden alle Brüche mit, alle langen Wellen der Konjunktur, um es mit Keynes zu formulieren. Die Brüche und Wege der 68er-Linken kennen wir ja, es wurde entsprechend ruhiger, und es wurde natürlich unglaublich schwierig. Von heutigen Zeiten wollen wir gar nicht sprechen. Aber damals, 69 im Sommer, als ich hier gegründet habe, war das unvorstellbar, dass es je wieder so einen Rückfall, so eine Lethargie geben könnte.
Damals bin ich zurückgekommen aus Berlin, wo ich über sechs Jahre gearbeitet habe in Wolffs Bücherei, das war eine sehr wichtige Zeit. Ich erzähle vielleicht am besten etwas chronologisch. Also ich komme ursprünglich aus einer, wie man sagt, guten Familie, gut situiert, mein Vater war Baumwollhändler, hat eine große Firma geleitet, und eines Tages waren dann die Kunststoffe absolut auf dem Vormarsch, und da brach der eben ein, der Baumwollbereich. Solche Zäsuren gibt’s eben immer. Und als das alles zusammenkrachte bei uns, da dachte ich, so, jetzt muss ich auf eigenen Beinen stehen, ich kann ja nicht rumheulen, dass das Haus nun auch noch verkauft ist und alles, das hilft ja nicht. Da war ich Anfang 20, hatte meine Buchhandelslehre fertig und beschloss, nach Berlin zu gehen. Ich habe mich bei Marga Schöller beworben. Die war die beste Adresse. Für diejenigen, die es nicht wissen: Marga Schöller ist, glaube ich, 1905 geboren und hat mit 24 ihre kleine Bücherstube am Kurfürstendamm 30 eröffnet. Sie war so gut, dass bald alle zu ihr kamen, von George Grosz über Brecht, Musil, Canetti bis hin zu Kästner und Baldwin.
Und sie führte während der NS-Zeit keine braune Literatur, die verfemte Literatur hat sie in ihrem Keller versteckt. Deshalb war sie auch eine der Ersten, die nach 45 wieder eine Lizenz als Buchhändlerin bekamen. Und sie hat es wieder geschafft, die Gruppe 47 tagte bei ihr, man ging einfach zu Marga Schöller. Als ich ankam, war’s Winter, ich hatte das Auto meines Bruders geliehen, von Halensee kommend lag der Laden auf der linken Seite, im Schaufenster hingen die ganzen Essays aus der Presse, Fotos, alles, was interessant war.Wenn man reinkam, hatte man bereits was gelesen. Die ganze Atmosphäre war zauberhaft, alle waren enorm gebildet. Leider wurde für mich nichts daraus. Marga Schöller war überaus freundlich und sagte, wir sind sehr dafür, aber erst in einem Jahr. Ich war sehr enttäuscht, sehr. Das merkte sie und sagte, also es gibt da eine Buchhandlung, die schätze ich sehr, aber der Mann ist ganz schwierig, es ist schwer, mit ihm zu arbeiten. Trotz allem, er ist hervorragend! Wolffs Bücherei, Bundesallee 153.
Ich fuhr hin mit meinem VW, ging erst mal rein wie eine normale Kundin, und der beschriebene Herr Wolff trat auf mich zu mit einer Zigarette in der Hand. Das hatte erst mal viel Autonomie, in anderen Buchläden durfte man nicht rauchen, da durfte man gar nichts. Ich sagte dann, weshalb ich da war, und tatsächlich war’s so, dass er grade auf eine Mitarbeiterin hatte verzichten müssen. Er war ja ein bisschen cholerisch, er litt selber drunter, aber die wenigsten können das aushalten. Vier Wochen später habe ich angefangen. Es war eine wunderbare Zeit, wir haben uns sehr befreundet. Er hatte eine großartige Frau an seiner Seite, Nadeschda. Sie waren ja beide russischer Herkunft und man muss wissen, dass der Großvater von Andreas Wolff der berühmte Buchhändler und Verleger Maurice Wolff war, der in Moskau am Newski Prospekt seinen Laden hatte, in dem die ganze literarische und künstlerische Elite Russlands ein und aus ging.
Er konvertierte übrigens irgendwann vom jüdischen zum protestantischen Glauben, was später seinen Kindern und Enkeln sehr zugute kam als staatenlose russische Emigranten in Nazideutschland. 1883 ist er gestorben, und sein Sohn Ludwig – der Vater von Andreas – übernahm den Laden. Als die Familie dann im Zuge der Revolution enteignet wurde und nach Deutschland emigrierte, war Andreas Wolff 15. Er hat ja dann eine Verlagslehre gemacht und später seine Buchhandlung in der Bundesallee eröffnet, 1931 bereits. Nach dem Krieg hat er in Frankfurt mit seinem Freund Peter Suhrkamp zusammen den Suhrkamp Verlag aufgebaut, da war er bis 1955 Geschäftsführer, dann ist er wieder in seinen Buchladen in der Bundesallee gegangen. Also, der Andreas Wolff hatte eine große Familientradition im Rücken und ich habe unendlich viel von ihm gelernt. Auch über Typografie, etwa anhand der Herstellung seiner Friedenauer Presse, er hat mir sogar die Frauen vorgestellt, die das noch nähten damals, die Fadenheftung. Also das war eine absolute Handfertigkeit, diese Knoten zu machen.
Katja Wagenbach, seine Tochter, macht ja seit den 80er-Jahren ihren eigenen Verlag und hat die Friedenauer Presse sehr erfolgreich weiterentwickelt. Ich weiß noch, damals, 1963/64 war es, da kam Klaus Wagenbach rein in Wolffs Bücherei. Er kam gerade von Brod aus Israel, wegen Kafka, und hatte Krach mit dem Fischer Verlag. Bald darauf hat er irgendwie seine Briefmarkensammlung verkauft oder so was, und mit Katja – sie war ja damals seine Frau – den Wagenbach Verlag gegründet in der Jenaer Straße.
Und zur Verlagseröffnung gab es ein großes Fest. Wir sind natürlich hingefahren. Ich hatte damals einen wunderbaren Opel Kapitän übrigens, mit dem bin ich immer mit Wolff … wenn die Tür zufiel, klang das wie bei einem Geldschrank. Perfekt! Gut, also wir trafen dort auf Ingeborg Bachmann, fuhren mit ihr im Aufzug plaudernd hoch, und sie fand das so amüsant, dass sie einfach auf den Abwärtsknopf gedrückt und gesagt hat, reden wir doch noch ein bisschen. Berlin war ja damals wie ein Aquarium, wir sind zu allen Lesungen in die Akademie der Künste gegangen, an Mayröcker erinnere ich mich, an ihr ‚Arbeitstirol‘, so hieß es, glaube ich, an Thomas Bernhard. Ach … damals lebte Helen Wolff noch, die Frau von Kurt Wolff von Pantheon Press. Und der alte Bondy. Viele dieser wunderbaren Leute sind tot. Es gab natürlich die herrlichsten Lesungen auch in Wolffs Bücherei, da wurde Literaturgeschichte gemacht, kann man sagen. Sie kamen alle, Enzensberger, Uwe Johnson, Max Frisch, Günter Bruno Fuchs, Günter Grass, Nicolas Born und viele andere. Ich erinnere mich noch z. B. an Enzensberger, ich glaube, er stellte Gedichte vor, und an der Hand hatte er seine Tochter mit dem bezaubernden Namen Tanaquil, den hab ich nie vergessen. Viele der Autoren kamen natürlich auch als Kunden, einige wohnten sozusagen um die Ecke. Es ist sehr gut, wenn man von wirklichen Könnern lernt, wenn man so einen König an seiner Seite hat, den man aber eines Tages auch wieder verlässt. Das ist manchmal grausam, aber nötig. Wir haben uns gestritten über linksbündig oder nicht bei Heinrich Manns Essay ‚Mein Bruder‘. Soll das linksbündig sein oder zentriert, und ich sagte, bei der Familie muss es zentriert sein. Der Streit war ausufernd, und mir fehlten dann auch die Argumente. Jedenfalls dachte ich, ich möchte jetzt weg. Es war auch genug mit Berlin.
Das war also 1969. Ich ging nach Bremen zu meinen tapferen Eltern. Heute geht man nach einer Insolvenz ja ins Gasthaus und bestellt Champagner, damals war das noch furchtbar. Es war ja alles verkauft. Aber Jakobs Kaffee, die hatten ein Grundstück, das haben sie meinem Vater, glaube ich, geschenkt, die waren ja alle in der SPD. Und mein Vater hatte dann mit Tonträgern sich was aufgebaut, deshalb habe ich ja auch diese dämliche Musiksammlung. Die auf dem Flohmarkt sagen immer, Mensch, was du da verkaufst, ist ja unglaublich. Ich könnte dafür natürlich viel mehr Geld verlangen, aber ich bin immer froh, wenn die Kiste leer ist. Gut, ich war wieder hier, und ich saß im Garten und wusste nur eins: nie wieder angestellt sein! Bin viel spazieren gegangen, mit dem Fahrrad herumgefahren in der Stadt. Dieses Haus hier war grade im Umbau, davor traf ich Olaf im Blaumann – er hat Anfang 1980 die Grünen mit gegründet. Er ist Architekt und ein scharfer Hund, hat auch wunderbar Aufstand gemacht gegen schreckliche Baupläne. Der stand also hier und sagte: Na, willst du einen Laden haben? Und ich bekam einen Laden, erst oben, praktisch auf dem Flur, der war noch viel kleiner als dieser hier. Und ich habe angefangen, meine Bestellungen losgelassen …“
Eine Kundin betritt den Laden und fragt in die Runde: „Haben Sie die Einstein-Biografie von Gero von Boehm, ‚Wer war Albert Einstein?‘ ist, glaube ich, der Titel?“ Bettina Wassmann fragt: „Ist die gut? Also, Thomas Levenson habe ich gelesen, sie wollen aber Gero von Boehm, soll ich’s bestellen?“ Die Kundin braucht es aber sofort und wird zum nächsten Buchladen geschickt, der ein paar Häuser entfernt ist.
„Also ich habe ganz klein angefangen, war quasi die erste linke Buchhandlung und habe den gesamten Marx bestellt. Da war der Laden dann bereits so gut wie voll, insgesamt übervoll. Ich habe noch nie so einen vollen Laden erlebt. Mein erster Kunde war Günter Abramzik, er war ein guter Freund von Bloch. Später war er Pastor Primarius am Dom zu Bremen und auch zuständig für die Evangelische Studentengemeinde nach der Gründung der Bremer Universität 1971. Die waren sehr progressiv. Ich habe auch was von ihm herausgegeben ‚Von wahrer Duldung‘.
Na ja, dann gab’s die Ausschreibung für den Uni-Buchladen, wir haben uns beworben und ihn bekommen. Aber es war auf Dauer einfach zu viel Stress und Hektik. Inzwischen war der Laden hier umgezogen und ich hab den Uni-Buchladen dann wieder aufgegeben. Aber das war ja später. Ich wollte ja erzählen, wie alles losging mit Alfred.
Wir – Barbara Herzbruch und ich – wir wohnten zusammen, waren befreundet. Sie wurde übrigens später die zweite Frau von Klaus Wagenbach. Also, wir gingen Anfang der 70er in eine Vorlesung von Alfred Sohn-Rethel, der Gastprofessor war. Das Thema war ‚Geistige und körperliche Arbeit‘. Wir haben über den Titel sehr gelacht. Es war komplett voll. Es herrschte eine ungeheuer konzentrierte Atmosphäre. Ich habe überhaupt nichts verstanden, nichts! Machen wir uns klar, wenn man in der marxistischen Terminologie nicht zu Hause ist, auch nicht in der Ökonomie, dann ist es unmöglich. Ich habe Barbara immer angestoßen, aber sie hat auch nichts verstanden, obwohl sie Ökonomie studierte. Was aber sehr faszinierend war, war die Komplexität dieses Menschen, der da saß. Er hatte auch in den Pausen eine geradezu fantastische Ausstrahlung, es war sehr still, aber er war überhaupt nicht autoritär, er war herzlich, sanft, warm. Er wurde verehrt und hat das ohne Eitelkeit hingenommen. Er war ein ganz besonderer Mensch, mich hat das sehr beeindruckt. Kennen gelernt habe ich ihn dann während eines Festes. Er wohnte zum ersten Mal hier in einer Wohngemeinschaft, mit 74 Jahren bei Thomas Kuby war das, und man hat ihn da unter die Fittiche genommen, es gefiel ihm gut. Und auf diesem Fest haben wir uns ein bisschen unterhalten und auch verabredet. Das war 1973. Und dann tauchte Alfred hier im Buchladen auf und er kaufte viel zu viele Bücher, vielleicht aus Absicht, er konnte sie gar nicht transportieren und fragte, ob ich sie ihm liefern könne. Also, es gibt Begegnungen im Leben, wo man plötzlich nicht sprechen kann. Ich dachte, na was ist das denn! Ich war richtiggehend schüchtern, das ist sonst gar nicht meine Art. Und ich habe also die Bücher hingebracht, wir haben uns unterhalten. Ich habe auch wieder gesprochen, viel über Benjamin. Es gab ja diese Werkausgabe, gebunden, später dann die Briefbände. Wir sind dann so zweimal in der Woche essen gegangen, und ich habe ihn immer gebeten, dass er mir aus der Zeit der Emigration erzählt, vor allem von Benjamin, der gemeinsamen Zeit in Paris, der Zusammenarbeit. Und von Adorno in Paris, und wie das damals war mit dem Institut usw. Ich habe das alles in mich aufgenommen, er hat sehr schön erzählt. Manchmal dachte ich, es ist vielleicht unhöflich, dass ich ihn immer sozusagen nach den Berühmtheiten frage, aber ich war plötzlich irgendwie blockiert, konnte nicht sprechen, die ganze Aura hat mich gefangen genommen. Dabei war er gütig und lieb und hatte überhaupt nichts von jemandem, der einen gleich zwirbelt, wie Adorno.
Irgendwann ist Alfred dann zu uns in die Bismarckstraße, zu Barbara Herzbruch und mir, gezogen. Und da ging’s dann enorm los. Wir haben richtig ein Haus geführt, abends saßen bei uns die Freunde von der Uni und es wurde natürlich richtig gekocht, auch Alfred hat gekocht. Und auch mit meiner verlegerischen Arbeit ging es dann los, mit der Festschrift zu Sohn-Rethels 80. Geburtstag. Da habe ich mir eine Festschrift einfallen lassen ‚L’invitation au voyage‘ ist der Titel, das ist eine Zeile aus einem Baudelaire-Gedicht. Und da ist dann eine wunderbare Mischung zusammengekommen, auch aus diesem Arbeitszusammenhang, ‚Mechanisierung der Kopfarbeit‘, also da waren Leute aus der Kybernetik, aus den Naturwissenschaften, aus den Geisteswissenschaften, die da zusammengearbeitet haben mit viel Liebe. Solch interdisziplinäres Zusammenspiel hat die Uni Bremen ja durchaus mal ausgezeichnet. Und dann haben wir 18 Beiträge gehabt, sehr unterschiedliche, da sagte ich mir, jetzt bekommt jeder Beitrag ein Heftchen geschneidert. Wir hatten nachher dann 18 Heftchen in einer schönen Mappe. Ich habe damals auch dem wunderbaren Roberto Calasso, dem Verleger des exquisiten Mailänder Adelphi Verlages, die Festschrift geschickt. Er ist ja nicht nur Verleger, er ist auch Autor. Auch seine Frau, die Fleur Jäggi, ist Autorin.
Na ja“, sie seufzt, „sie haben diesen wunderbaren Verlag, und eben das Kleingeld von Fiat. Jedenfalls hat er gesagt: Das ist die schönste Festschrift, die ich je gesehen habe. Dieses Lob hat mich sehr gefreut. Also, die Sammlung trägt wilde Züge. Da ist ein Text dabei über Alfred Seidel, das war ein alter Freund von Alfred aus der Heidelberger Studienzeit, also aus den 20er-Jahren, dieser Alfred gehörte damals schon in die Prinzhorn-Therapie, weil er unter schweren Depressionsattacken litt. Sohn-Rethel sagte immer, er habe nie jemand Schlaueren kennen gelernt, und das ohne jede Sinnlichkeit. Und der schrieb mit 23 Jahren ein Werk, das hieß ‚Bewusstsein als Verhängnis‘.“ Die Gäste lachen schallend, dann fährt die Gastgeberin fort: „Alfred liebte ihn sehr. Eines Tages hat sich Alfred Seidel das Leben genommen. Und wisst ihr, wo? Auf dem Bahnhofsklo!
Also, das war auch so ein Grund, weshalb ich mich aus der Uni-Buchhandlung zurückgezogen habe, um mich ganz Alfred und meinen unmittelbaren Interessen hier zu widmen. Es hat gereicht. Man kann sich nämlich überfordern, ganz schrecklich. Viele von den Leuten, die ich kannte, sind krank geworden davon. Barbara Herzbruch ist so ein Beispiel. Sie ist mit 44 gestorben an Krebs. Ich bin am Wochenende immer nach Berlin gefahren, hab mir da eine kleine Wohnung genommen und habe sie besucht, in Rudow, in der Onkologie. Dort ist Barbara ganz jämmerlich eingegangen. Was mich betrifft, so habe ich es zum Glück immer geschafft, die Dinge dann zu ändern, wenn die Überforderung und die Unlust überhand genommen haben. Das liegt wahrscheinlich an den wunderbaren Erfahrungen meiner Kindheit. Ich komme ja aus einer Familie, die war unendlich musikalisch – Adorno hat ja mal an Benjamin geschrieben: ‚Musik ist Abschaffung von Angst‘. Mein Vater hatte Musik studiert. Meine Mutter hatte eine große handwerkliche, taktile Begabung, sie hat Kunst studiert. Es gibt eine schöne Geschichte von ihr. Meine Eltern reisten mal in die USA, mein Vater hatte Bankgeschäfte zu erledigen, Vorfinanzierungen, da gab’s ein befreundetes jüdisches Bankhaus, und das Ganze dauerte seine Zeit. Meine Mutter sagte, mach du mal deine Geschäfte, ich gehe ins Metropolitan Museum. Dort traf sie zufällig auf einen der Leiter, einen Bremer aus der Kurfürstenallee. Sie konnte kaum Englisch und rief: ‚Rettung! Haben Sie eigentlich auch Spitzen hier?‘ Meine Mutter hatte sich nämlich aus Interesse auch mit Spitzen beschäftigt und konnte sogar selbst klöppeln. Also sie hatten Spitzen, alles unsortiert und durcheinander. Sie erklärte sich bereit, das alles zu ordnen und zu sortieren, die Kustoren wurden geholt und sie bekam alles, was sie brauchte. Sie hat die Spitzen nach Alter und Herkunft sortiert und auf Pappen gezogen, Spitzen aus dem 15. Jahrhundert, aus Brügge, aus Brüssel usw. Das war meine Mutter.
Wir sind fünf Kinder, und alle haben Begabungen. Mein Bruder Christoph hat eine Begabung für Gläser, mit verbundenen Augen ertastet er ein Glas und kann sagen, 16. Jahrhundert. Fantastisch. Und wir haben alle musiziert, ich spielte Klavier, die anderen Geige. Wir waren eine wohlhabende Familie. Die Nachbarskinder sind sozusagen bei uns aufgewachsen, denn bei uns ging es überhaupt nicht spießig zu, es gab nicht diese autoritäre Welt, die ja noch verbindlich war, die gab’s bei uns nicht. Im Zentrum stand immer das Künstlerische. Das Musikalische war sozusagen der Gegenentwurf, den man sich leisten konnte durch die prosperierenden Geschäfte. Also, wir sind nach Salzburg gefahren als Kinder, wir haben am Kobenzl gewohnt in diesem zauberhaften Hotel – wir waren ja befreundet mit allen, und ich saß mehr in der Küche als in unseren Zimmern. Ich habe mit George Szell Fußball gespielt, da war er Mitte 50 so was, er war mit seinem Cleveland Orchestra da. Wir haben den ‚Don Giovanni‘ gesehen mit Furtwängler in der Felsenreitschule, ein herrliches Erlebnis, von dem ich heute noch …“
Ein junger Mann betritt den Laden, grüßt knapp und reicht Bettina Wassmann, die nahe der Tür sitzt, einen Zettel. Im gleichen Moment ertönt Dudelsackmusik. „Haben Sie einen Kassettenrekorder in der Tasche?“, fragt Frau Wassmann erstaunt. „Nee, Telefon“, sagt der Kunde, klappt das winzige Gerät auf, tritt einen Schritt zur Seite und tauscht lautstark Banalitäten aus. Bettina Wassmann studiert den Zettel, nimmt einen Stift und korrigiert etwas, während der junge Mann das Gespräch beendet. Dann sagt sie in neutralem Tonfall: „Falsch geschrieben, Updike schreibt sich mit k, nicht mit c. Na, so geht’s schon mal.“ Sie empfiehlt die Thalia Buchhandlung. Der junge Mann sagt: „Gut, mach ich, tschüs“, und verlässt ohne zu danken den Laden. „Damit komme ich immer sehr schlecht zurecht, mit unhöflichen Leuten. Auf dem Flohmarkt, das ist ja eine Massenveranstaltung, da kommen oft Leute an den Tisch … und wenn dir dann auch noch jemand die Ehre nimmt, deine Sachen schlecht macht, um den Preis runterzutreiben, und du sitzt seit vier Uhr früh da, dann ist das deprimierend. So einfach sind die Zeiten ja nicht!
Das war auch mal anders, früher kamen hier andere Kunden rein, also jetzt nicht unbedingt nur so genannte Intellektuelle, es war einfach bunter. Anfang der 90er-Jahre etwa – Alfred war schon tot –, da kam Otto Rehhagel hier manchmal in den Laden, er war ja Vereinstrainer bei Werder Bremen, hat hier einen wunderbaren Fußball entwickelt, und er war ein großer Gedichteleser, ein begeisterter. Er traf hier Reinhild Hoffmann, die nach Kresnik das Bremer Tanztheater machte. Und er hat uns ins Café eingeladen, weil er von ihr etwas wissen wollte über ihre Trainingsmethoden. So muss das sein, ein ständiger Austausch von Wissen. Auch zwischen Leuten, die sich hier im Laden vielleicht zufällig treffen.
Aber die Linken verachten ja den Fußball, die haben nie den Spaß mitentwickeln können, den andere daran haben. Es ist ja ein Spiel, bei dem es auch sehr um Körperintelligenz geht und um das blitzschnelle Zusammenwirken einer Gruppe. Aber man konnte einfach mit fast keinem über Fußball reden, außer mit Detlev Clausen, der diese schöne Adorno-Biografie gemacht hat. Oder auch mit Dietrich Sattler, dem Herausgeber der Hölderlin-Ausgabe, an der er 20 Jahre, glaube ich, gearbeitet hat. Der schrieb, als Werder Bremen, ich meine, zum zweiten oder dritten Mal nicht Meister wurde, einen genialen Traueraufsatz. Das war genial gestrickt nach dem Motiv der Kästchenwahl von Shakespeares ‚Kaufmann von Venedig‘ – nur so für sich hat er das geschrieben, um über diese Niederlage hinwegzukommen, denn so eine Niederlage ist ja schwer für einen, der Fußball liebt. Und er hat mir diesen kleinen Essay hier gezeigt, und der war so zauberhaft geschrieben, dass ich sagte, hör mal, das muss unbedingt veröffentlicht werden. Mir fiel gleich Wagenbach ein, aber beim zweiten Nachdenken erinnerte ich mich, dass Wagenbach Sport hasst, so wie Churchill ‚no sports!‘, und ich dachte, das wird er nicht machen wollen. Aber es war einfach so toll geschrieben, dass ich’s ihm trotzdem gegeben habe. Und dann muss man ja auch noch wissen, dass es ein Riesenproblem war, mit Dietrich Sattler mal ins Stadion zu gehen. Der hatte richtig eine Phobie, der bekam Zustände, wenn er sich zwischen Massen begeben sollte, dann auch noch zwischen hoch erregte Massen! Ich habe ihn so reingeleitet, habe also auf ihn aufgepasst. Wir saßen unter 40.000 Fußballfans. Und hinter uns erschallte ein Chor von unglaublichen Männerstimmen. Das waren alles Werftarbeiter von der AG-Weser, wenn die da in so einem 200 Meter langen Schiffsbauch arbeiten und dauernd einander was zurufen, dann kann man sich vorstellen, was die für Stimmen bekommen. Na ja, jedenfalls hat Wagenbach diesen Essay gedruckt. Im Freibeuter.
Heute, wie gesagt, ist das alles viel schwieriger geworden. Eben andere Kunden. Ich muss flexibel sein. Ich arbeite da beispielsweise mit einer Modehandlung zusammen, mit einer alten Freundin von früher. Sie hat das beste Modegeschäft in Bremen. Eine Modefirma mit Literatur. Wir machen das vier- bis fünfmal im Jahr, Modenschau, und ich mach das literarische Rahmenprogramm. Sensationell! Da erscheinen 80 bis 100 Damen, Kundinnen, und zwischen dem Defilee kommt dann z. B. Gertrude Steins ‚Das Geld‘ oder von Schiller ‚Das Glück‘.
Viele der Damen sind leitende Geschäftsfrauen. Die eine oder andere kommt dann auch schon mal hier in den Laden und kauft Bücher, und zwar nicht zu knapp. So habe ich noch ein Standbein. Man muss ja. Aber ich mache meinen Weg nicht kaputt. Nur hier zu sitzen und zu warten, das kann so oder so ausgehen. Am Samstag war’s z. B. sehr gut. Es war sehr heiß, da saßen natürlich alle draußen, wir tranken ein Wasser, da rief jemand: Bettina, du hast Kunden! Die ganze Straße hat natürlich gelacht. Im Laden standen zwei Ehepaare und ich, sind fünf Personen. Da ist es hier ja schon überfüllt. Das waren Gäste der Stadt und sie haben so wundervoll eingekauft, dass ich am Samstag eine richtig gute Kasse hatte. Bücherberge haben die gekauft, zauberhafte Menschen! Für die Mieten war das wichtig. 600 Euro habe ich hier und noch mal 600 Euro zu Hause. Also machen wir uns nichts vor, die Zeiten sind ganz schwierig. Wir müssen wirklich immer sehen, wie wir es packen. Ganz viele Läden mussten hier raus. Mit dem Verlag – na ja, Verlag in dem Sinn ist es ja nicht, es ist eine Buchladenedition –, das habe ich einfach im Moment eingestellt. Meine Drucker haben auch Insolvenz gemacht. Niederschmetternd! Wir haben viel diese Bibliothek von der Süddeutschen verkauft. Obwohl der Rabatt kaum der Rede wert ist, habe ich’s gemacht. 1.000 Bände wurden verkauft!“ Sie schlägt ein Buch auf. „Hört mal, ich habe hier den schönen Satz von Alfred gefunden: ‚Aber auch die freudsche Theorie gehört zur Priesterschaft des kapitalistischen Kults‘ … das Verdrängte, die sündige Vorstellung IST das Kapital, ist die Hölle des Unbewussten, verzinst.‘ Ich muss jetzt Alfred wieder auflegen. So viel ist klar.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen