Nachhaltigkeit im Alltag: Brauchen ist eine Entscheidung
Perfekter Konsum ist nicht möglich. Doch es gibt mehr als eine Strategie, mit dem Dilemma umzugehen. Zwei Menschen, unterschiedliche Bedürfnisse.
Dabei hält dieses Regal aus einer Berliner Wohnung all diesen Fragen stand. Es ist vegan, regional und ökologisch, hundertprozentig recycelt und somit hundertprozentig recycelbar – upgecycelt heißt das dann.
Aber ist es nicht noch besser, gar nicht erst ein Regal haben zu wollen? Es ist die Frage nach dem eigenen Verhältnis zum Materiellen, die Wachstumskritikern in Wachstumsgesellschaften Kopfschmerzen bereitet. Für Marius Hasenheit ist Teil der Lösung, selbst zu bauen; aus seinen Händen stammt das Upcycle-Regal.
An einem Sonntagnachmittag sitzt der 27-Jährige in seiner Neuköllner Wohnung und frühstückt. Er trägt Lederjacke, Pulli, Schal, Jeans, einen gepflegten Dreitagebart und dazu eine dieser runden Brillen, die modern sind, weil sie irgendwie alt aussehen. Er wirkt, als wäre er jederzeit bereit, eine große Unternehmung zu starten.
Geordnetes Chaos
Hasenheit ist ein Tüftler. Beruflich forscht er in einem der führenden Umweltinstitute über die ökonomische Lösung der Ressourcenfrage, in seiner Freizeit sammelt er Altmaterialien und baut daraus Möbel. In Hasenheits Wohnung stehen Holzbretter, die mit Flaschen zusammengehalten werden, neben aneinandergeschraubten Weinkisten und Europaletten-Konstruktionen, auf denen selbst gemachte Skulpturen thronen.
An der Wand hängt ein uraltes Plakat von einer „Schwanensee“-Aufführung, und im Bücherschrank steht „Der kleine Prinz“ neben den „Drei Musketieren“. In dieser Wohnung herrscht geordnetes Chaos, gerade unordentlich genug, um nicht in Verdacht zu geraten, spießig zu sein. Genau wie Hasenheits Leben.
Mit sieben Jahren baut er im Unterricht einen Ameisenstaubsauger und träumt seitdem davon, als Umweltforscher durch den Regenwald zu streifen. Die Gelegenheit bietet sich nach dem Abitur in einem Ökoprojekt in Nicaragua. Anschließend studiert er Biogeowissenschaften in Jena und Global Change Ecology in Bayreuth.
In Berlin, wo Multikultigesellschaft und deutsche Innovationselite im Kiez nebeneinander leben, schafft er den beruflichen Einstieg als „Junior Researcher“. Hasenheit vereint Systemkarriere und Systemkritik. „Man braucht beides – Radikalität und Pragmatismus“, erklärt er. Diese Haltung macht ihn für die Radikalen zum Pragmatiker und für die Pragmatiker zum Radikalen.
Marius Hasenheit
„Brauche ich so ein Upcycleregal überhaupt?“, fragt stattdessen einer, dessen liebstes Hobby „ausmisten“ ist. Sein zweitliebstes ist bloggen. Also kombinierte Michael Klumb die Vorlieben und bloggt seit 2011 über das Ausmisten. Heute ist er hierzulande der bekannteste Minimalismus-Blogger. Dabei ist Klumb eigentlich eher schüchtern. Man merkt ihm an, dass er sich an das öffentliche Interesse an seiner Person noch nicht gewöhnt hat. Seine Stimme ist leise, sein Kleidungsstil schlicht: Turnschuhe, schwarze Hose, schwarzes T-Shirt, dazu kurze, nach oben gegelte Haare und als einzige Auffälligkeit eine leuchtend grüne Brille, die seinen Optikerberuf verrät.
Als Klumb sein Wohnzimmer zeigt, wirkt er zufrieden. Parkett, grüner Teppich, eine Sitzecke mit grauer Couch und schwarzem Hocker, davor ein großes Regal, in dem früher der Fernseher stand. Eine Kerze auf dem Tisch und zwei Fotorahmen an den Wänden sind die einzigen Dekorationsgegenstände. Es ist schlicht, aber nicht ungemütlich, und doch wirkt es, als wäre Klumb erst zur Hälfte eingezogen. Doch er fühlt sich wohl. Statt Regale zu bauen, leert Michael Klumb welche. Für ihn fühlt es sich einfach besser an, weniger zu besitzen.
Entrümpeln als Lebensaufgabe
Das war nicht immer so. Der 33-Jährige lebte ein Pendlerleben zwischen Wohnung und Arbeitsplatz, Bergisch-Gladbach und Düsseldorf. Unter der Woche half er Kollegen in einer Brillenfirma als IT-Supporter, am Wochenende legte der Hobby-DJ bei Familienfeiern und Geburtstagspartys auf, in der übrigen Zeit ging er gerne einkaufen – vor allem CDs und Bücher. Bis es ihm irgendwann zu viel wurde.
Die Kleidung in den Schränken, die Erinnerungsstücke an der Wand und das Essen in der Vorratskammer – von allem hat er mehr, als er braucht. Sein Besitz belastet ihn, Regale, Kleidung, E-Mail-Accounts und Freunde, überall sortiert Klumb aus und behält nur, was ihm wirklich wichtig ist.
Das Entrümpeln wird für Michael Klumb zur Lebensaufgabe. „Weniger zu besitzen bedeutet für mich, Freiheit zu gewinnen.“ Diesen Gedanken und seine Selbsterfahrungen schreibt er auf und stellt sie online. In seinem Blog definiert er sich als Minimalist und schreibt, dass es besser sei, sich vor dem Kauf zu fragen, ob man den Gegenstand wirklich brauche oder ob man nicht schon alles Wichtige besitze.
Diese scheinbar alten Überlegungen ziehen täglich bis zu 50.000 Besucher an. In einem Land, in dem jeder immer mehr haben kann, wird es zum faszinierenden Abenteuer, wenn einer weniger möchte. Die Faszinierten treffen sich seit einiger Zeit zum deutschlandweiten Minimalismus-Stammtisch. Mittlerweile informieren mehr als 80 deutsche Minimalismus-Blogger regelmäßig die Onlinegemeinde über ihren Lebensstil – Tendenz steigend. Manche von ihnen versuchen verzweifelt, nicht mehr als hundert Dinge zu besitzen. „Das schießt über das Ziel hinaus“ , sagt Klumb, der der Bekannteste unter den Minimalisten ist.
Doch auch Klumb möchte noch mehr reduzieren, zuletzt seine Arbeitszeit von 40 auf 35 Stunden. Er ist ein Sparfuchs – auch beim Geld. Besitz belastet ihn und ist teuer, darum gleicht sein Blog gelegentlich einer Anleitung zum Geldsparen. Weniger Kosten und weniger Stress, damit erreiche er mit seinem Blog eher die einfachen Leute als die Studenten in ihren hippen Vierteln mit ihren veganen Cafés, sagt Klumb. Er hält auch diesen Trend für verzichtbar.
Ursache und Wirkung
Der Berliner Upcycler Marius Hasenheit sieht das anders: „Es geht nicht darum, nichts mehr zu besitzen und den Konsum aus dem eigenen Leben zu verbannen.“ Die Diskussionen der Minimalisten sind für Hasenheit philosophisch interessant und politisch irrelevant, denn „ein Großteil der Menschen hat ganz andere Probleme“. Für Hasenheit geht es stattdessen darum, so schnell wie möglich, den Emissionsverbrauch in der Produktion zu reduzieren und nicht in erster Linie den eigenen Besitz. Das sei dafür gar nicht unbedingt nötig.
Wenn Hasenheit argumentiert, gestikuliert er mit den Händen. Was er sagt, ist gut überlegt und folgt dem Kausalitätsprinzip: Ursache, Wirkung. Egal ob er die Weltwirtschaft oder die letzte Partynacht analysiert.
Hasenheit ist kein Idealist um jeden Preis – das Kosten-Nutzen-Verhältnis muss stimmen, und dabei darf auch das Vergnügen nicht zu kurz kommen. Viele Menschen in seinem Umfeld sehen das ähnlich. Darum klingelt alle 15 Minuten sein Handy, und er trifft Verabredungen, um diesen Sonntagnachmittag ja nicht ungenutzt zu lassen. Bald lässt Marius Hasenheit die Regale in seiner Wohnung allein, geht beim Restaurant nebenan Lebensmittel vor der Mülltonne retten und trifft sich dann mit Skateboard und Drachen auf dem Tempelhofer Feld, es gibt immer zu tun.
Die gleichen Propheten
Der Regalbauer Hasenheit sucht nach neuen Wegen, die Dinge, die er braucht, zu be- und zu erschaffen. Das nimmt viel Zeit in Anspruch und kostet Kraft. Wie Klumb hat er sein Leben nach seinen Überzeugungen ausgerichtet. Minimalisten und Upcycler gehören beide zum Schwarm der Postwachstumsfreunde, die kürzlich eine taz-Wochenendausgabe eroberten. Obwohl die einen sich dem Materiellen zu- und die anderen sich von ihm abwenden, haben beide dieselben Propheten – Niko Paech und Harald Welzer, die den wissenschaftlichen Überbau liefern.
„Wer bin ich, dass ich anderen Leuten vorschreiben kann, wie sie zu leben haben?“, sagt Minimalist Klumb, der auch auf einen politischen Anspruch lieber verzichten würde. Dabei ist das, was er macht, hochpolitisch. Er verweigert dem Kapitalismus seinen Nährboden: den Konsum.
Doch auch mit den Minimalisten macht der Kapitalismus, was er am besten kann: er kommerzialisiert sie. Seit einiger Zeit bieten Minimalisten bezahlte Hilfe beim Entrümpeln an, Coaching heißt das dann.
Die Kommerzialisierung machte auch vor Hasenheits Regal nicht halt. Der Tüftler begann, seine Regale im Internet zu verkaufen – allerdings ist das laut Gesetz nur mit Meisterbrief möglich. Also stellte Hasenheit den Verkauf wieder ein.
Damit bleibt das Regal aus seinen Händen vorerst einmal im Neuköllner Kiez – und ethisch völlig unbedenklich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!