: Die unerhörte Wissenschaft
Die „Kultur der Panik“ kritisierte Robert Misik an diesem Ort. Er übersah, dass die Angst- auf einer Ignoranzkultur beruht. So reagiert die Politik entweder gar nicht – oder über
Das Dumme an Kassandra ist, dass sie Apolls Begehren nicht erwiderte. Dafür bestrafte sie der eitle Fatzke: Kassandra konnte fortan zwar weissagen, nur Glauben schenkte ihr niemand. Wie die Geschichte mit dem Trojanischen Pferd ausging, wissen wir: Trotz Prophezeiung gingen die Trojaner unter. Wie die Geschichte mit dem Klimawandel ausgeht, wissen wir dagegen noch nicht. Stammen die Rufe, die wir allenthalben zu hören bekommen, von Kassandra? Oder illustrieren sie nur die „Kultur der Angst“, die uns infizierte?
Die Übertragung der gesellschaftlichen Pathologie sei von der Übertragung des Vogelgrippevirus nicht mehr zu unterscheiden, schrieb Robert Misik an dieser Stelle (taz, 18. 10.) und kommt zu dem Schluss: Wir leben in einer „Kultur der Panik“, die Ängste zweiter Ordnung produziert – die Angst vor der Angst. Misiks Beweis: Wir fürchten uns schon vor der Pandemie, bevor sie überhaupt grassiert.
Krisenstäbe, Schlagzeilen, Massenkäufe von Medizin – angesichts der aktuellen Lage scheint die Zustandsbeschreibung als „Kultur der Panik“ einleuchtend. Dieser Blick aber reicht nur bis zur Oberfläche. Unter dieser regiert eine „Kultur der Ignoranz“. Die Gesellschaften könnten es eigentlich besser wissen – weil sie Erkenntnisse aber zu lange ignorierten, werden sie von Angst getrieben.
Wie uns die Vogelgrippe zeigt: Niemand interessierte sich vor fast zwei Jahren für die Viren, die in Südostasien zu wüten begannen. Niemand außer der Fachwelt, die sich extrem alarmiert zeigte: Mitnichten sei der lokale Ausbruch eine lokale Angelegenheit, sondern beträfe auch uns. Wer damals kassandrisch „Vorsicht“ rief und von der Politik – auch der deutschen – entschlossenes Handeln forderte, wurde mit dem Stigma „Panikmacher“ belegt.
Die Wissenschaftler sagten damals exakt jenes Ausbreitungsszenario vorher, das wir nun erleben. Statt aber ihrem Rat zu folgen, ignorierte die Öffentlichkeit jenseits der Fachwelt mögliche Gefahren. Diese „Kultur der Ignoranz“ änderte sich auch nicht, als die Weltgesundheitsorganisation WHO von potenziell 150 Millionen Todesopfern sprach. Zwar ließ sich das nicht mehr ignorieren, ist doch die WHO der Panikmache unverdächtig. Von Angst aber nicht die geringste Spur. Erstens gab (und gibt) es jenen Virus, der sich todbringend von Mensch zu Mensch verbreitet, ja noch gar nicht. Zweitens hatte es die Vogelgrippe gerade mal bis zum Ural gebracht. Doch ohne den Druck der Öffentlichkeit reagieren politische Institutionen nicht – sie verschleppen notwendige Entscheidungen, sie stellen zu wenig Geld für Forschung und entsprechende Maßnahmen bereit.
Seitdem nun täglich näher Vogelgrippeviren nachgewiesen werden, zeigt sich die „Kultur der Ignoranz“ ganz anders. Massenkäufe des Grippemittels Tamiflu sind angesagt – es ist in manchen Städten nicht mehr zu bekommen. Geflügel wurde mit einem generellen Ausgehverbot belegt. Gleichzeitig beruhigen Experten, eine konkrete Gefahr bestehe derzeit noch nicht. Aus den kassandrischen Rufen wird ein babylonisches Stimmengewirr. Mit dem Ergebnis, dass ein Chor der Massen die „Kultur der Panik“ zelebriert. Ergebnis: Des Experten Rat wird wieder ignoriert.
Das ist Symptom dieser „Kultur der Ignoranz“: Die Gesellschaft scheint von ihrer Wissenschaft entkoppelt. Zwar umgibt sich die Bundesregierung mit wissenschaftlichen Gremien wie dem „Rat für Nachhaltigkeit“ oder dem „Umweltbeirat“. Rufen die aber zu Kurskorrekturen auf, wird das großzügig ignoriert.
Zwar weisen wissenschaftliche Institute dutzendfach einen Zusammenhang zwischen Erderwärmung und etwa Hurrikanen nach. Zwar hat die Wissenschaft längst Wege aus dem fossilen Energiezeitalter aufgezeigt. Die Wirtschaft will aber immer nur die Förderquoten von Öl und Gas erhöhen. Zwar wundern wir uns über Gewitter im Winter oder über Überschwemmungen im Sommer. Doch mitnichten ist uns dieses Wundern Anlass, den Rat der Experten einzuholen und zu befolgen – wie die aktuelle Politdebatte über die Förderung regenerativer Energie zeigt.
Das liegt am Zweifel, dem wichtigsten Element der „Kultur der Ignoranz“: Weil nicht sein soll, was uns zum Umdenken und Umlenken gewohnter Wirtschaftsabläufe zwingen würde, hören wir einfach nicht hin. Allenfalls halb: um die Behauptungen zu widerlegen. „Zahl und Stärke der Hurrikane nehmen zu“, schrieb der Spiegel nach „Katrina“: „Doch mit der globalen Erwärmung hat das nichts zu tun.“ Klimakatastrophe sei ein Begriff, den es überhaupt nur im deutschen Sprachgebrauch gibt. Alles Humbug, keine Gefahr. Dabei war es der Spiegel, der den Begriff der Klimakatastrophe erfand – und 1985 mit einem hinweggespülten Kölner Dom illustrierte. Damals wie heute ignoriert das Blatt Wissenschaft. Niemals wird der Kölner Dom überspült. Noch heute beklagen die Fachleute den Alarmismus, den solche „Kultur der Ignoranz“ erzeugte.
Allerdings hat auch die Wissenschaft ihren Teil zu dieser „Kultur der Ignoranz“ beigetragen – als „gekaufte“ Wissenschaft. Drei Studien, die letzte Woche vorgestellt wurden: „Zu wenig Bewegung verursacht Knochenschwund“, die erste. „Genmais gefährlicher als bislang angenommen“, die zweite. Die dritte: „Die Volkskrankheit Erkältung wird unterschätzt.“ Wie die Universität Duisburg-Essen errechnete, koste das die deutsche Volkswirtschaft jährlich 29,2 Milliarden Euro – in etwa so viel, wie die CDU und SPD brauchen, um den Haushalt zu sanieren. Asbest, Aids, Amalgam – angesichts solcher Meldungen ist das alltägliche Leben tatsächlich beängstigend gefährlich. Um zu unser aller Beruhigung beizutragen: Auftraggeber für die Genstudie war Greenpeace, zunehmender Knochenschwund wurde im Auftrag der Internationalen Osteoporose Foundation prognostiziert. Und wissenschaftlich zu belegen, dass Erkältung die Volkswirtschaft ruiniert – das beauftragte der Hustenbonbon-Hersteller Wick.
Hier ist es Wissenschaft, die eine „Kultur der Angst“ erzeugt. Angst sei früher ein emotionaler Mechanismus gewesen, um sich gegenüber realen Gefahren zu orientieren, schreibt der britische Soziologe Frank Furedi. Individuell fühlbare Gefahren also, gegen die es sich zu wehren gilt. Heute dagegen scheinen wir uns geradezu vor allem zu fürchten. Das ist das Gefährliche an der „Kultur der Ignoranz“: Eben weil Vogelgrippeviren oder Erderwärmung individuell nicht fühlbar, sondern globaler Natur sind, erscheinen die Bedrohungen im Wesentlichen unreal.
Die Konsequenzen werden bei der Vogelgrippe sichtbar: Weil Vietnam keine Entschädigung zahlen kann, verstecken die Bauern ihre zwanzig Hühner lieber, als sie im Verdachtsfall preiszugeben. Sie haben ja nichts anderes. Hätten wir – wie uns zeitig geraten worden war – mit Geld, Know-how und Engagement die Seuche in Vietnam bekämpft, brauchten wir heute vor ihr keine Angst zu haben. Schuld an diesem Dilemma ist die „Kultur der Ignoranz“. NICK REIMER
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