Münteferings und sein Rücktrittsgrund: Die Möglichkeit Liebe
Der Rücktritt von Arbeitsminister Müntefering zeigt, wie viel sich bei menschlichen Beziehungen in unserer Gesellschaft getan hat - und er zeugt von Romantik.
Man hält es für möglich. Das ist der Eindruck, der wieder zurückkommt und bleibt, nachdem man die Umstände um den Rücktritt von Franz Müntefering einen Tag hat sacken lassen. Selbst wenn es kitschig klingt: Man hält es für möglich, dass Franz Müntefering tatsächlich wegen seiner Liebe von allen Ämtern zurückgetreten ist.
Das sagt etwas über diesen Politiker. Emotional aufgemacht - wie das in der Psychologensprache heißt - hat Müntefering zwar nie; aber gerade das trägt jetzt zu seiner Glaubwürdigkeit bei. Und dann und wann hat er doch ein Gefühlsinnenleben aufblitzen lassen. 2004 etwa in einem Gespräch mit der SZ.
Auszüge aus Franz Münteferings Abschiedsrede:
"Meine Damen und Herren, ich bedanke mich dafür, dass Sie hier sind, und möchte mich heute als Minister von Ihnen verabschieden. Ich habe mich entschieden, in der nächsten Woche aus dem Kabinett auszuscheiden. [ ] Der Grund dafür ist rein familiär und persönlich. Man spricht darüber nicht leicht und nicht gerne, aber meine Frau ist seit geraumer Zeit erheblich erkrankt. Es hat sich in den letzten zwei bis drei Wochen noch einmal die Notwendigkeit einer schwierigen Operation ergeben. Das war die fünfte seit 2001. Es wird eine lange Phase der Reha geben, und ich möchte dabei sein. Diese beiden Aufgaben lassen sich nicht vereinbaren, dort eng dabei zu sein, bei meiner Frau - und gleichzeitig sowohl, aber auch das Ministerium zu leiten und zu lenken. Die Entscheidung ist deshalb, dass ich das Amt des Ministers aufgebe und mich der Aufgabe zuwende, die jetzt meine wichtigste ist. Es ist ausschließlich dieser private Grund, es ist kein politischer, ich sag das ausdrücklich, weil mir natürlich bewusst ist, dass der eine oder andere versucht, dies so zu interpretieren. Das ist ausdrücklich nicht so. [ ] Ich würd mich sehr freuen, wenn ganz viele dies auch akzeptieren, vielmehr muss es möglich sein, dass man klarstellt, dass es neben der Politik und neben der Aufgabe, die man hat, zumal, wenn man sie lange getan hat und ein gewisses Alter erreicht hat, dass es auch noch etwas anderes geben kann, das man dann als erste Priorität sieht, es ist kein Abschied und kein Ausstieg aus der Berliner Koalition, ich bleibe MdB, vorerst sicher mit gebremster Kraft. Aber in der Hoffnung, dass die Entwicklung in einer Reha so sein kann, dass im Verlauf des Jahres 2008 vielleicht auch wieder mehr Zeit ist, mit mir als MdB in die laufende Politik einzuschalten und mitzuhelfen und Ratschlag zu geben. [ ] Ich bedanke mich.
QUELLE: BILD-ZEITUNG
"Frage: Herr Müntefering, haben Sie schon einmal aus im weitesten Sinn politischen Gründen geweint?
Müntefering: . . .
Frage: Tränen in den Augen gehabt?
Müntefering: . . .
Frage: Ja oder nein?
Müntefering: Man muss ja keine Tränen in den Augen tragen, um Gefühle zu haben."
Die lakonische Antwort variiert ganz altes Alltagswissen, tief eingesenkt in unsere Gesellschaft, die gerade auch deshalb funktioniert, weil man seine Gefühle nicht öffentlich präsentiert. Vor allem aber das vorangegangene zweifache Schweigen ist beredt. Man versteht es sofort. Es heißt: Klar habe ich Gefühle, aber die werde ich hier doch nicht öffentlich preisgeben! Im Nachhinein lässt sich dieses Schweigen geradezu als kürzestmöglichen Einspruch gegen die neue Beck-SPD lesen. Wie immer man die inhaltlichen Differenzen um ALG und Agenda auch bewertet, im Kontrast mit diesem Schweigen wirkt das Gequatsche um neue Wärme und Nähe zu den Menschen als zynische PR-Sprache.
Dass man den Rücktritt aus Liebe für möglich hält, sagt aber auch etwas über den aktuellen Stand von Paaren und ihren Gefühlen. Ich ziehe mich aus rein familiären Gründen zurück - hätte man bei so einer Begründung nicht noch vor einer Generation automatisch ein "Jaja, red du nur!" hinzugefügt? Geglaubt hätte man sie keineswegs. Doch inzwischen rechnet man auch in solchen gesellschaftlichen Kältezonen wie der großen Politik mit normalen menschlichen Verhaltensweisen. Das macht den rationalen Kern der Rührung aus, die man neben der Anteilnahme am Schicksal von Ankepetra Müntefering bei sich beobachtet. Die Umstände dieses Rücktritts erlauben einen Blick darauf, wie viel sich auf dem weiten Feld der menschlichen Beziehungen zuletzt getan hat.
Viele, viele Jahre lang war Familie das Alibi, das erfolgreiche Männer vor sich hertrugen, um sich in People-Magazinen oder auf Pressebällen als ganzer Mensch zu präsentieren - mit Gefühlen, gelebtem Daseinssinn und auch sonst allem Drum und Dran. Beinahe automatisch kann man die Floskeln herunterleiern. Im Kreis der Familie erhole ich mich von den Strapazen des Alltags! Meine Frau ist der wichtigste Mensch in meinem Leben! Das mache ich alles nur, damit es meine Kinder später einmal besser haben! Eigentlich sind solche Sprüche viel zu durchsichtig, um sie nicht zu durchschauen. Und doch wurden sie jahrzehntelang tonnenweise in Druckerschwärze gegossen.
Noch Helmut Kohl hielt eine öffentliche Familien-Rundum-glücklich-Inszenierung für selbstverständlich - sosehr sich im Schatten dieses herausgestellten Familienglücks Hannelore Kohl auch in den abgedunkelten Oggersheimer Bungalow verkroch. Man musste aber kein Fan des oft hinter die Fassaden guckenden französischen Kinoregisseurs Claude Chabrol sein, um zu wissen, dass hinter den bürgerlichen Glücksoberflächen gelegentlich Abgründe an Gefühlskatastrophen lauern. Liebe, wenigstens die Liebe der Mittelklasse - so dachte man doch! - hieß in der Konsequenz Einfluchten in vorgegebene Beziehungsmuster und Gefangenschaft in einem gut gepolsterten 08/15-Käfig.
Das alles gibt es immer noch. Aber eine allzu naiv vorgeführte Standardfamilie führt nicht mehr ins symbolische Herz der Gesellschaft, sondern auf direktem Weg in die Feierabendidyllen des ZDF und auf die Hochglanzfotos unserer schlichteren Frauenzeitschriften. Um wirklich glaubhaft zu sein, muss der emotionale Hintergrund eines Lebens gebrochen präsentiert werden, selbstironisch, abgeklärt oder aber - wie bei Franz und Ankepetra Müntefering - dezent. Gefühle zeigen? Eben nicht oder vielmehr nur dort, wo sie passen. Aber nach ihnen handeln, das durchaus!
Genau so eine erwachsene, aufgeklärte Liebe vermutet man nun hinter Münteferings Rücktritt. Diese Liebe scheint es nicht nötig zu haben, sich in Hochglanzbildern zu spiegeln. Ob diese Vermutung stimmt, kann man letztlich zwar nicht wissen. Entscheidend ist aber bereits, dass man es eben für möglich hält. So trägt Münteferings Entschluss dazu bei, die überholten Familien- und Beziehungsbilder zu überschreiben, die bei einem weiterhin im Hinterkopf wabern. Die Liebe gilt ihm, wie den Generationen zuvor, weiterhin als Außen seines politischen Alltags. Nur dass er sich offenbar tatsächlich bemüht, dieses Außen auch lebensweltlich zu füllen.
Selbst bei Menschen mit Münteferings Hintergrund - katholisch, Dorfjugend im Sauerland, hochgerackert in der Partei, oben gehalten gegen andere Alphamänner - ist die Botschaft angekommen, dass man für seine Beziehung etwas tun muss. Dass Rita Süssmuth das ist, was von der 68er-Bewegung bleiben wird, hat Jürgen Habermas einmal in einem Bonmot gesagt. Wenn das stimmt, ist Franz Müntefering das, was von unzähligen Männergruppen, Paartherapien, Coachingseminaren und Beziehungsgesprächen in den Küchen dieser Republik bleiben wird.
Jedenfalls scheint er damit Ernst zu machen, dass eine Beziehung nicht von überkommenen Rollen, sondern vom tatsächlich gelebten intersubjektiven Austausch der Partner getragen wird; in guten und in schlechten Tagen. Ein Einzelfall, gewiss. Aber auch ein weiterer Baustein, um gesellschaftlichen Fortschritt zu konstatieren. Immerhin haben wir jetzt neben einer Kanzlerin und diversen schwulen Bürgermeistern auch einen Ex-SPD-Vorsitzenden, Vizekanzler und Arbeitsminister, der, nachdem er sich jahrelang den Ruf der Bärbeißigkeit erarbeitet hat, freiwillig auf seine Macht verzichtet. Man muss darüber nicht gleich die Einlösung aller 68er-Hoffnungen von befreiter Liebe ausrufen. Aber das ist ein Indiz mehr dafür, dass die emotionalen und sozialen Grundlagen unserer Gesellschaft ja möglicherweise doch gelegentlich ganz gut funktionieren - sosehr Kirchenvertreter und Konservative aus der Emanzipation von rollenzentrierten Beziehungsmodellen auch Verfallsszenarien zimmern mögen. Kann ja sein, dass die Scheidungszahlen zunehmen. Aber daraus folgt eben noch lange nicht, dass Kälte und Gefühllosigkeit zwischen den Menschen herrschen.
Allerdings muss man zugeben, dass Franz Müntefering eine Ausnahme unter den Spitzenpolitikern darstellt, gerade auch unter den ehemaligen Spitzenpolitikern der SPD. Oskar Lafontaine (Sohn auf den Schultern), Gerhard Schröder ("Ich sach noch mal: Ich liebe meine Frau") und Rudolf Scharping (badend im Glück) haben zuletzt viel vordergründigere Bilder gefunden, um zu demonstrieren, wie wichtig ihnen ihre Familie und Beziehungen sind. Was diese öffentlichen Auftritte der ehemaligen SPD-Troika ins Seichte kippen ließ, war, dass sie gerade Erfolgsgeschichten vorführten. Liebesromane, die mit solchen Mitteln arbeiten, ordnet man gewöhnlich unter der Rubrik Schund ein.
Was Münteferings Schritt davon abhebt, ist nicht nur die tragische Färbung seines Rücktritt. Es ist die eigentümliche Romantik, die hier, trotz des traurigen Anlasses, deutlich wird. Man hat sich längst daran gewöhnt, dass der ultimative Test wahrer Liebe nicht mehr darin besteht, zur Not auch gegen alle Widerstände der Normen, Konventionen und gesellschaftlichen Regeln zusammenzufinden. Man wird sich, wenn auch widerstrebend, weil alles, was daraus folgt, ja nicht leicht ist, vielleicht auch daran gewöhnen, dass der Test wahrer Liebe in unserer älter und erwachsener werdenden Gesellschaft darin besteht, auch in schwierigen Lebenslagen zusammenzubleiben.
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