Kommentar Münteferings Abgang: Merkel: Macht ohne Gefühle
Müntefering ist der moralische Sieger, nicht nur weil er auf die Macht verzichtet. Merkels Abhaken und Weitermachen kommt diesmal nicht gut an.
D er Rücktritt von Franz Müntefering stellt die Kanzlerin vor ein Problem, das sie kaum lösen kann. Die große öffentliche Anteilnahme am Schicksal ihres sozialdemokratischen Stellvertreters und seiner kranken Frau rückt eine Kategorie in den Mittelpunkt der deutschen Politik, mit der sich Angela Merkel äußerst schwer tut: das Gefühl. Nicht Sach-, sondern Charakterfragen sind es, die bei der Betrachtung von Münteferings Abschied dominieren - und die bei vielen Menschen Rührung, mindestens aber Emotionen auslösen. Deshalb funktioniert Merkels oft bewährte Methode, mit politischen Turbulenzen umzugehen, diesmal nicht.
Lukas Wallraff (36) ist Redakteur im Hauptstadtbüro der taz
Abhaken und weitermachen: Merkel reagierte auf Münteferings Rücktritt so, wie sie in ihrer Karriere immer reagierte, wenn wichtige Kollegen aufgegeben hatten. Ein kurzes Statement, zwei Minuten "Anerkennung und Respekt" für ihren Vize. Das wars. Es muss ja schließlich auch ohne ihn regiert werden. Und früher hatte Merkel diese sachliche Nüchternheit auch nicht geschadet: Ob Edmund Stoiber oder Friedrich Merz - am Ende standen die abgetretenen Rivalen als schwächliche Verlierer da: entzauberte Kraftprotze. Da sie Merkel vorher angegriffen hatten, bekamen sie kein Mitleid. Sie hatten eben einen politischen Kampf verloren. Doch der Fall Müntefering wird anders wahrgenommen.
Der Vizekanzler gilt als moralischer Sieger - nicht nur, weil er die Sorge um seine Frau als Rücktrittsgrund nannte. Die Sympathien gewonnen hatte er schon vorher: Müntefering gelang es, mit seinem Verhalten in den letzten Wochen glaubwürdig den Eindruck zu erwecken, dass er andere Prioritäten habe als Machtstreben. Damit zeigte er eine Stärke, die Merkel fehlt. Er legte ihre größte Schwäche bloß.
Während Müntefering im Streit um das Arbeitslosengeld prinzipientreu agierte, eierte Merkel herum - und entschied sich dann für Kurt Becks Anliegen. Den Wunsch Münteferings nach Post-Mindestlöhnen ignorierte sie. Ob sich ihr Vize auch deshalb zum Schlussmachen entschied, weiß nur er. Merkel nahm es zumindest in Kauf. Das könnte sich noch rächen. Die SPD wird Münteferings Abgang zum Heldenmythos verklären - und den Mindestlohn als sein Erbe pflegen.
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