: Warten auf die Wut
DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH
Karge Hoffnung auf Wachstum, aber eine Steuerpolitik, mit der die Asymmetrie von Welt- und Binnenmarkt wachsen wird. Das Versprechen gleicher Bildungschancen, aber kein finanzieller Ruck in der Bildungspolitik, sondern ihre Regionalisierung. Keine (Wieder-)herstellung der allgemeinen Sozialversicherungspflicht, aber auch kein Schritt in Richtung Staatsfinanzierung. Das Wort „Vollbeschäftigungsziel“ ist aus dem Wortschatz der Politik verschwunden. Die Reichtumsschere öffnet sich weiter – was im Koalitionspapier nicht problematisiert wird. Unten wächst der Sockel der Überflüssigen, weshalb die Sparanstrengungen auf eine Verbilligung ihrer Ernährung zielen.
Die Wut wird steigen. Das war meine erste Reaktion bei der Lektüre der neuen Hartz-IV-Leitlinien. Aber vielleicht haben sich die Arbeitslosen an ihren Dauerstatus gewöhnt, aus erfahrungsgesättigter Apathie. Oder sie finden Wege, ihre ALG-II-Bezüge aufzubessern, damit sie sich das soziokulturelle Minimum eines Fernsehers, einer Fahrt in die Stadt, einer Zeitung, einer Tasse im Café pro Tag und eines wöchentlichen Kinobesuchs leisten können (womit bereits zwei Drittel des Regelsatzes aufgebraucht wären). Vielleicht werden sie sich auch an die neuen Disziplinarmethoden gewöhnen: Wer jünger ist als 25, darf nur mit Erlaubnis der Armutsverwaltung bei den Eltern ausziehen, wer in einer Wohngemeinschaft lebt, muss den Behörden beweisen, dass er dort keinen Geschlechtsverkehr hat, und alle müssen jederzeit am Telefon sitzen.
Öffentliche Wut entsteht, wenn Versprechen gebrochen werden. Aber über kurzzeitige Erregung geht sie nur hinaus, wenn ein Bruch des Gesellschaftsvertrags erlebt wird. Dann steht die Legitimation des Staates auf dem Spiel. Aber die Ideologie des globalen Marktstaates hat die Köpfe so weitgehend imprägniert, dass der Bruch mit der bürgerlich-kapitalistischen Moderne, den Hartz IV bedeutet, fast unbemerkt durchging. Auch wenn Legitimationsfragen vor allem intellektuelle Diskurse füttern, ist verwunderlich, dass die Kategorien „Armut“ und „Bedürftigkeit“ in die offizielle Sprache zurückgekehrt sind – ganz ohne Scham.
Damit werden 200 Jahre gesellschaftliche Entwicklung semantisch durchgestrichen. „Bedürftig“ waren in der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft nur die Arbeitsunfähigen: die Schwachen, Irren, Alten, Kranken, Waisen – die bürgerlich Unmündigen. Jetzt fallen alle unter das Bedürftigkeitskriterium, die der deregulierte Arbeitsmarkt nicht mehr nachfragt.
Gesellschaft hängt zusammen durch Arbeitsteilung, das war die Legitimationsidee. „An der Arbeit, die in unsichtbarer Verkettung alle leisten, sind alle berechtigt“, so schrieb der asketische Kapitalist Walter Rathenau. Deshalb sei „Besitzverteilung ebenso wenig Privatsache wie Konsum“. Es gehe dabei nur sekundär um Geld, zentraler sei das aktive Mittun und der kulturelle Fortschritt. Deshalb hat der Staat für Rathenau – wie übrigens schon für Adam Smith – die Pflicht, seine Bürger so zu bilden, dass sie eine Arbeit auf der Höhe der ihnen erreichbaren Fähigkeiten ausüben. Und er muss die Wirtschaft so regeln, dass alle Arbeitsfähigen ein Leben in Selbstverantwortung führen können. Für den ersten Zweck solle sich der Staat an die „verdienstlosen Massenerben“ und die großen Vermögen halten, die ja der Arbeit der vergangenen Generationen entstammen. Dem zweiten Zweck diene die „Kürzung der Arbeitszeit“.
Das war das Ziel und ein Jahrhundert lang der Weg. Der Konsens, der die deutsche Gesellschaft zusammengehalten hat, beruhte nicht nur auf dem Wohlstandsgewinn aller Klassen, sondern auch auf dem Versprechen: Vollbeschäftigungspolitik und Rationalisierung ermöglichen „gute Arbeit“ für alle. „Humanisierung der Arbeit“ hieß das.
Diese „große Erzählung“ ist durchgestrichen, aber noch nicht ganz vergessen. Dass das Sozialprodukt stetig wächst, aber die Lohnquote sinkt, die Arbeitszeit steigt und die Ungleichheit größer wird, verstößt gegen historisch erworbenes Gerechtigkeitsempfinden. Allerdings nur, solange im Rahmen der sozialstaatlichen Arbeitsgesellschaft gedacht wird: In der geht es nämlich um Ansprüche, die durch den Gesellschaftsvertrag gedeckt sind, und nicht um staatliche Mildtätigkeit, die nur verdient, wer „würdig“ ist und den Anordnungen folgt.
In der öffentlichen Sprache verblassen die Begriffe, in denen solch arbeitsbürgerliches Selbstverständnis sich ausdrückte. Dabei helfen Ideologien wie die „Epochenwechsel“-Meditationen von Fernsehdenkern wie Meinhard Miegel. Für den besteht eine Gesellschaft nicht aus Bürgern, sondern aus „wirtschaftlich Starken und Schwachen“. Der Sozialstaat ist demnach ein „menschenfeindlicher“ Gleichmacher, der den „Starken … gründlich abgewöhnt (hat), sich um die Schwächeren zu kümmern“. Ja, er hat ihnen „die Mittel, die (sie) dafür benötigten, ungefragt weggenommen“. Derlei neofeudale Mentalität paart sich mit vulgärökonomischen Klitterungen, in denen die Geschichte der sozialen Emanzipation nur noch als Schatten vorkommt. Die „Wirtschaft“ hat hier kaum noch etwas mit Produktion, sondern nur noch mit Markt zu tun, und das Gesellschaftsbild kennt nur drei feste Größen: die Heiligkeit des Eigentums an Kapital, die Alternativlosigkeit eines ungeregelten Weltmarktes und ein Individuum, das Marktteilnehmer und nicht Staatsbürger ist. Nur in den Grenzen eines solchen Weltbildes ist die Behauptung plausibel, die individuellen Einkommen (wie auch die Lohnquote) „müssen abnehmen“ – und zwar mit naturgesetzlicher Notwendigkeit: „ w e i l die Bedeutung der Erwerbsarbeit bei der Wertschöpfung sinkt“.
Wo bleibt der öffentliche Zorn, die aufgeklärte Wut über derlei Ideologie? An welcher Universität wird der akademische Handschuh zu einer Auseinandersetzung darüber geworfen, ob der „Wohlstand der Nationen“ mit weltweiten und voll-liberalen Märkten vereinbar ist? Wo sind die Studenten, die solche Debatten erzwingen? Wann halten die Helden der linken SPD ihre Pamphlete aus der Zeit endlich als Reden im Bundestag? Warum sagt der DGB-Vorsitzende nicht öffentlich, was er „unter drei“ so klug weiß: dass der wichtigste Hebel zu einer neuen Vollbeschäftigung eine radikale Arbeitszeitverkürzung ist? Das kann doch nicht nur daran liegen, dass alle oben genannten ihre Schnitzel für zwanzig Euro noch bezahlen können, weil die schwarz arbeitenden Tellerwäscher noch mit fünf pro Stunde zufrieden sind.
Andererseits: Peter Glotz hat zuletzt von der „märchenhaften Gier der Mittelschichten geredet“, die das größte Hindernis auf dem Weg zu sozialer Gerechtigkeit sei. Das werde erst anders, wenn demnächst 200 Arbeiter eine Fabrik auseinander nähmen, die entlässt, obwohl die Zahlen schwarz sind. Aber richtige Wut habe ich in den letzten Wochen im Fernsehen nur einmal gesehen: Als der Sprecher des Bundes der Steuerzahler schier die Fassung verlor, als ein Hamburger Millionär forderte, die Steuern auf Vermögen endlich zu vervierfachen und damit an die englischen Verhältnisse anzupassen.
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