Verfassungsrichterin über Grundgesetz: "Volksabstimmungen kommen"
Die Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff geht davon aus, dass Volksentscheide im Grundgesetz verankert werden. Demokratische Entscheidungen sollten bürgernah gefällt werden.
taz: Die Bundesrepublik gilt nach 60 Jahren als im Wesentlichen gelungenes Staatsprojekt. Welchen Anteil hat dabei das Grundgesetz, Frau Lübbe-Wolf?
Gertrude Lübbe-Wolf: Einen großen. Es gedeiht nichts ohne vernünftige rechtliche Rahmenbedingungen.
Waren nicht Wirtschaftswunder, Sozialpolitik, der lange Frieden und die gesellschaftliche Liberalisierung viel wichtiger?
Wenn Sie mich fragen, ob essen wichtiger ist als trinken, kann ich Ihnen auch keine Rangordnung aufmachen. Wie wichtig Frieden und wirtschaftliche Entwicklung sind, weiß jeder. Ich betone die Bedeutung der Verfassung, weil sie vielen nicht so bewusst ist. Wie viel von dem Wohlstand, der Freiheit und der Sicherheit, die man genießt, auf rechtlichen Institutionen beruht, wird oft nicht gesehen.
Was ist mit den Werten des Grundgesetzes?
Ich spreche, wenn es um Rechtliches geht, nicht so gern von Werten, das verunklart vieles. Demokratie und Rechtsstaat leben zunächst einmal von klaren Regeln.
Und wie beurteilen Sie das Bekenntnis zur Menschenwürde?
Das ist die Abkehr vom tiefsten Kern des größten deutschen Unrechts. Darum steht das im Artikel 1 am Anfang des Grundgesetzes. Die Verpflichtung, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, hat ganz klare rechtliche Inhalte, denken Sie nur an das Folterverbot.
Hält heute ein Verfassungspatriotismus Deutschland zusammen?
Jede Verfassung ist darauf angewiesen, dass die Bürger auf ihre Garantien auch Wert legen. Und das Grundgesetz ist heute glücklicherweise für viele Menschen ein Grund, sich mit diesem Staat zu identifizieren.
Also eine Grundlage für ein neues ziviles Nationalgefühl?
Demokratie, Rechtsstaat, Grundrechte, das ist ja nichts spezifisch Deutsches, nicht einmal etwas spezifisch Europäisches. Unser Gemeinschaftsgefühl als Deutsche, das zur Wiedervereinigung geführt hat und dazu, dass beide Seiten bereit waren, dafür auch Opfer zu bringen, verdankt sich nicht dem Grundgesetz, sondern älterer geschichtlicher Erfahrung. Und zu einem entspannten und zivilen Nationalgefühl hat die letzte Fußball-WM sicher mehr beigetragen als die Idee des Verfassungspatriotismus.
Die Wahlbeteiligung geht immer mehr zurück. Gerät die Demokratie in die Krise?
Die Demokratie als Prinzip, dass jeder zählt und sich in den öffentlichen Angelegenheiten gleichberechtigt einbringen können muss, die ist sicher nicht in der Krise.
Was dann?
Die faktische Legitimationswirkung der Wahlen nimmt ab. Früher waren die meisten Menschen in einem bestimmten sozialen Milieu mit ähnlicher Weltanschauung und ähnlichen Interessen verwurzelt. Diesen Milieus konnten die Parteien programmatische Pakete anbieten, in denen die Leute alles wiederfanden, was ihnen politisch wichtig war. In einer Gesellschaft, die sich immer mehr ausdifferenziert, funktioniert das nicht mehr.
Deshalb haben die Wähler immer weniger das Gefühl, sie könnten mit ihrer Stimmabgabe für einen Wahlkreisabgeordneten und eine starre Parteiliste alle vier Jahre die Politik in Richtung ihrer individuellen Präferenzen steuern. Es ist frustrierend, wenn man mit der Mitwirkungsmöglichkeit, die einem eingeräumt ist, nicht mehr wirklich mitteilen kann, was man politisch will.
Plädieren Sie für die Einführung von Volksabstimmungen im Grundgesetz?
Ich will nicht plädieren, sondern Zusammenhänge und Entwicklungen verdeutlichen, und die sind so, dass das kommen wird, egal ob und wofür ich plädiere. Denn nur so können die Bürger ihre differenzierten Vorstellungen auch differenziert zum Ausdruck bringen und anders entscheiden als auf der Linie der Partei, die sie gewählt haben.
Schon allein diese Möglichkeit oder die Notwendigkeit, bestimmte besonders wichtige Fragen dem Volk zur Entscheidung vorzulegen, wird dann auch das Verhalten der gewählten Repräsentanten verändern. Nach sechzig Jahren stabiler Demokratie kann den Bürgern niemand mehr erklären, weshalb man sie da nicht ranlassen kann.
Mehr direkte Sachentscheidungsmöglichkeiten für die Bürger? Damit würde eine Grundentscheidung der Verfassung revidiert.
Bei der Schaffung des Grundgesetzes war der Parlamentarische Rat der Meinung, dass Volksabstimmungen zum Scheitern der Weimarer Republik beigetragen haben. Das stimmt aber nicht, wie man inzwischen auch in mehreren wissenschaftlichen Untersuchungen nachlesen kann.
Sind die politischen Fragen heute nicht zu kompliziert, um darüber nur mit Ja oder Nein abzustimmen?
Im Parlament wird auch nur mit Ja oder Nein abgestimmt.
Aber bis zur Schlussabstimmung wird fast jeder Gesetzentwurf geändert, manchmal sogar auf Druck der Opposition.
Natürlich ist es wichtig, Entscheidungsprozesse so zu organisieren, dass der Entscheidung eine Diskussion vorausgeht und vernünftige Differenzierungen und Kompromisse eine Chance haben. Das kann und muss auch bei direktdemokratischen Entscheidungsverfahren sichergestellt werden.
Die CDU/CSU lehnt Volksabstimmungen auch deshalb ab, weil es für die dann getroffenen Entscheidungen keinen Verantwortlichen gäbe. Was ist davon zu halten?
Wo das Volk selbst entscheidet, trägt es selbst die Verantwortung für das Ergebnis seiner Entscheidungen. Es gibt keine bessere Anleitung zur Vernunft und keine effektivere Form der Verantwortung als die, dass man die Suppe, die man sich eingebrockt hat, selbst auslöffeln muss.
Weithin anerkannt ist der Reformbedarf bei der Ausgestaltung des Föderalismus. Zu Recht?
Für die Bürger ist der deutsche Föderalismus wenig transparent. Wenn sie mit einer staatlichen Maßnahme nicht einverstanden sind, ist oft nur schwer ersichtlich, ob dies am Gesetz, das meist vom Bundestag stammt, oder an dessen Ausführung liegt, für die in der Regel die Länder zuständig sind.
Ist nicht der Föderalismus insgesamt fragwürdig, weil er die Demokratie unnötig kompliziert macht?
Nein. Entscheidungen sollten so bürgernah und in so kleinen Einheiten wie möglich fallen. Es ist kein Zufall, dass man bei empirischen Untersuchungen in Westeuropa, also bei sonst eher ähnlichen Bedingungen, die zufriedensten Menschen in kleinen Staaten gefunden hat.
Wollen die Deutschen nicht lieber einheitliche Lebensverhältnisse in der ganzen Bundesrepublik haben?
Dieser weit verbreitete Wunsch nach einheitlichen Lösungen, zum Beispiel beim Rauchverbot, offenbart ein Missverständnis. Dahinter steckt der Glaube, es gebe eine richtige Lösung, und die müsse dann überall gelten. Es ist aber im Sinne der Demokratie, wenn die Menschen möglichst dezentral entscheiden können, was sie für richtig halten.
Das spräche für eine Stärkung der Städte und Gemeinden.
Auch das. Die kommunale Selbstverwaltung ist sehr wichtig. Auch weil sie so viele Gelegenheiten für die Bürger schafft, aktiv an der Entscheidung über öffentliche Angelegenheiten mitzuwirken. Es gibt keinen besseren Ort, um wirklich zu erfahren, was Demokratie bedeutet und warum sie gut ist.
Ist der Erfolg des Grundgesetzes eigentlich eine Wirkung des Verfassungstextes oder doch eher eine Leistung des Bundesverfassungsgerichts?
Das lässt sich nicht ganz trennen. Es ist ja zum Beispiel gerade einer der Vorzüge gegenüber der Weimarer Verfassung, dass das Grundgesetz ein Verfassungsgericht vorsieht. Das Grundgesetz ist eine im Großen und Ganzen sehr gute Verfassung, und das Gericht hat sie im Großen und Ganzen sehr gut interpretiert.
Natürlich ist die Verfassung insofern das Wichtigste, als sie der Gegenstand jeder gerichtlichen Entscheidung und Interpretation ist. Aber die Bedeutung der Grundrechte ist in wesentlichen Aspekten erst durch das Bundesverfassungsgericht geklärt worden.
Hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das Grundgesetz populär gemacht?
Das Verfassungsgericht hat ganz wesentlich dazu beigetragen, dass viele Bürger die Verfassung kennen und als etwas für sie Wichtiges verstehen. Das ist für die praktische Wirksamkeit der Verfassung etwas ganz Entscheidendes. Eine Verfassung, auf die die Bürger keinen Wert legen, wird auch von den Staatsorganen nicht geachtet.
Zugleich erhält das Bundesverfassungsgericht auch erhebliche Macht.
Das Wort Macht hat in diesem Zusammenhang etwas Irritierendes. Zur Macht gehört Freiheit, und ich sehe uns gebunden. Allerdings ist der Inhalt dieser Verfassungsbindung in jedem Fall gerade das Umstrittene, und insofern kann man das Gericht, das in dem Streit das letzte Wort hat, sicher auch als mächtig bezeichnen.
Bei der Prüfung, ob ein Gesetz unverhältnismäßig in Grundrechte eingreift, ist die Macht der Verfassungsrichter besonders groß. Hier wenden sie meist keine Regeln mehr an, sondern wägen nur noch Werte und Ziele gegeneinander ab.
Wir wenden den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit an, der zu Abwägungen verpflichtet. Und ich sehe keine Alternative zu einer Verfassungsauslegung, nach der die Grundrechte unverhältnismäßige Einschränkungen verbieten. Der Gesetzgeber könnte sonst, fast bis zur praktischen Abschaffung der Grundrechte, machen, was er will, solange er in der Form des Gesetzes handelt. So können die Grundrechte nicht gemeint sein, sonst hätte man sie erst gar nicht in die Verfassung zu schreiben brauchen.
Das Verfassungsgericht hat ein besseres Ansehen als die Politik. Ein Zeichen dafür, dass in Deutschland Recht und Ordnung mehr gelten als der politische Diskurs?
In Deutschland ist die Akzeptanz für eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit wirklich besonders hoch. Ich sehe da eher einen Zusammenhang mit einer unpolitischen Tradition, die daran glaubt, dass in Entscheidungsprozessen Lösungen nicht gemacht, sondern gefunden werden, dass das Richtige also eigentlich immer schon vor jeder Entscheidung feststeht.
Wie gehen die Richter mit der Erwartung um, dass sie eher eine akzeptable Lösung finden werden als die Politik? Ist das nicht eine Versuchung?
Zum richterlichen Ethos gehört, dass man die Macht des letzten Wortes nicht ausufernd nutzt und sich mit kreativer Rechtsprechung zurückhält. Je gefestigter eine Demokratie, desto mehr spricht für richterliche Selbstbeschränkung.
Wer kontrolliert das Bundesverfassungsgericht?
Die fachliche und die allgemeine Öffentlichkeit. Wir dürfen und sollen kritisiert werden.
Sehen Sie sich auch als Stimme des Volkes gegen vermeintlich abgehobene Politiker?
Die Stimme des Volkes, auf die es ankommt, ist für uns das Grundgesetz. Ihr müssen wir auch gegen Mehrheiten im Parlament oder eine gerade vorhandene Mehrheitsmeinung der Bürger zur Geltung verhelfen. Das erlaubt keine solchen Zuordnungen. Ich glaube allerdings, dass ein Verfassungsgericht nicht den Kontakt zu dem verlieren darf, was den Bürgern wichtig ist und was sie für richtig halten. Aber das kann nicht Demoskopie im konkreten Fall bedeuten. Über die Frage, was überhaupt die aktuelle Meinung des Volkes ist, würden wir Richter, wenn es darauf entscheidend ankäme, wahrscheinlich genauso streiten wie über vieles andere.
Dennoch fallen viele Urteile einstimmig. Wie kommt das?
Das ist Ausdruck der absolut vorbildlichen Beratungskultur am Gericht. Die Richter diskutieren sehr intensiv und gut vorbereitet miteinander, was oft zu einer Annäherung der Standpunkte führt. Außerdem gibt es auch oft Fälle, in denen man sich von vornherein einig ist. Es gibt eben Dinge, die gehen einfach nicht, und das sieht dann auch jeder, der nicht durch ein Interesse oder durch Einbindung in einen Interessenzusammenhang geblendet ist.
Der Erfolg ihres Gerichts hat eine Kehrseite. Sie ertrinken in Klagen. Soll das Recht zur Verfassungsbeschwerde eingeschränkt werden?
Das Gericht ist zwar sehr hoch belastet. Im Vorjahr gingen rund 6.200 Verfassungsbeschwerden ein, und wir sind nur 16 Richter. Aber das ist mit den vorhandenen Möglichkeiten in den Griff zu bekommen. Ich halte es für bewahrenswert, dass sich jeder am Ende der gerichtlichen Instanzen direkt an das Bundesverfassungsgericht wenden kann. Hier erfahren die Bürger: "Die Verfassung ist für mich da."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen