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SOZIALLEISTUNGENHartz IV war "lebensfremd"

Rot-grüner Vorstoß aus Bremen: Eine unabhängige Expertenkommission soll die neuen Hartz IV-Sätze berechnen. Die Bagis lehnt regionale Leistungen ab

Weil die Politik versagt, müssen immer wieder die Gerichte ran Bild: dpa

Jeden dritten Euro steckt Bremen derzeit in Sozialleistungen, etwa einer von fünf BremerInnen ist auf staatliche Hilfen angewiesen. Kaum ein Bundesland dürfte also die Frage stärker umtreiben, ob Hartz IV-EmpfängerInnen nach dem Karlsruher Urteil künftig von der Bundesanstalt mehr Geld bekommen - und wer dies festlegen soll.

Am Mittwoch meldete sich Sozialsenatorin Ingelore Rosenkötter (SPD) zu Wort. Sie forderte Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) auf, eine unabhängige Expertenkommission einzusetzen, um die Höhe der künftigen Regelsätze für Hartz-IV-EmpfängerInnen zu bestimmen. "Expertenwissen und nicht parteipolitische Opportunität müssen im Vordergrund stehen", sagte Rosenkötter. Der Kommission sollten neben Wissenschaftler und Gewerkschaftern auch Arbeitgeber, Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Betroffene angehören.

Zu Zeiten der rot-grünen Schröder-Regierung waren die Sätze vom Bundesarbeitsministerium festgesetzt worden. Das Verfassungsgericht hatte das Verfahren am 9. Februar als "nicht nachvollziehbar und transparent" kritisiert. Bis Ende des Jahres müssen die Sätze neu berechnet werden - doch bisher ist völlig unklar, wie. In einer ersten Reaktion hatte das Arbeitsministerium einen "Härtefallkatalog" mit zusätzlichen Leistungen für Hartz IV-EmpfängerInnen angekündigt.

Die Bremer Grünen unterstützten Rosenkötters Forderung. Auf jeden Fall müssten die Sätze künftig an die Preisentwicklung angepasst werden, sagte Horst Frehe, ihr sozialpolitischer Sprecher. Frehe kritisierte auch, dass mit Hartz IV die Möglichkeit, für einmalige Anschaffungen wie eine Waschmaschine Zuschüsse zu bekommen, so gut wie abgeschafft wurde: "Das hat sich in dieser Rigorosität als lebensfremd erwiesen."

Auf seine Einladung hatte am Dienstagabend eine Expertenrunde in der Bürgerschaft diskutiert. Martin Lühr von der Aktionsgemeinschaft Arbeitsloser Bürger und Bürgerinnen (Agab) wandte sich dabei gegen eine Abkehr vom Pauschalierungsprinzip. "Ich bin absolut dagegen, dass die Leute am Ende wieder wegen jeder Bratpfanne zur Behörde rennen müssen." Frehe warf die Frage auf, ob nicht "regionale Besonderheiten" künftig erhöhte Leistungen in Bremen rechtfertigen könnten. Das teure Bremer Sozialticket etwa könnte ein Argument für einen höheren Bremer Regelsatz werden - der Bund müsste das zahlen.

Der stellvertretende Bagis-Geschäftsführer Eckhard Lange wies das als "nicht administrierbar" zurück. "Unterschiedliche regionale Bedarfe sind weder praktikabel noch zielführend", sagte er. Ließe man sich darauf ein, müsste man auch zwischen Stadt und ländlichem Raum differenzieren. Er rechnet damit, dass in der nächsten Zeit eine Vielzahl von Hartz IV-EmpfängerInnen "atypische Bedarfe" geltend mache. Eine Erweiterung dieser Leistungen für soziale Härtefälle wie etwa chronisch Kranke soll das Arbeitsministerium derzeit vorbereiten.

Ein Vertreter des Sozialgerichtes vermutet, dass dies auch die Justiz beschäftigen werde - weil LeistungsbezieherInnen, die sich in dem Katalog nicht berücksichtigt sehen, dies von Gerichten überprüfen lassen. "Das wird nicht spurlos an uns vorüber gehen. Mittelfristig wird es zu vielen Klagen kommen."

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