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BVG-Klage gegen Europawahlrecht2,8 Millionen verlorene Stimmen

Auch bei der Europawahl gilt in Deutschland die Fünfprozenthürde und verstellt Kleinparteien den Weg. Drei Wähler klagen vorm Bundesverfassungsgericht.

Crazy: Ohne Fünf-Prozent-Hürde hätte Gabriele Pauli es 2009 ins Europaparlament geschafft. Die PBC allerdings nicht. Bild: dpa

FREIBURG taz | Muss die Europawahl in Deutschland wiederholt werden? Darüber verhandelte am Dienstag das Bundesverfassungsgericht. Drei Wähler, darunter der Rechtsprofessor Hans Herbert von Arnim, hatten gegen das Wahlgesetz geklagt. Es gebe bei Europawahlen keine Rechtfertigung für die übliche Fünfprozenthürde, sie verzerre unzulässig das Wahlergebnis.

Die letzten Europawahlen im Juni 2009 verliefen eigentlich unspektakulär. Die etablierten Parteien nahmen die Fünfprozenthürde mühelos (CDU: 30 %, SPD 20 %, Grüne 12 %, FDP 11 %, Linke 7,5 %, CSU 7,2 %). Ohne Sperrklausel hätten aber auch sechs Kleinparteien zumindest einen Abgeordneten nach Europa schicken können (Freie Wähler 1,7 %, Reps 1,3 %, Tierschützer 1,1 %, Familienpartei 1,0 %, Piraten 0,9 %, Rentner 0,8 %). Deren Mandate gingen stattdessen an die etablierten Parteien.

Eine "krasse Ungerechtigkeit" sei das, schimpfte Hans Herbert von Arnim. "Da fallen die Stimmen von 2,8 Millionen Wählern einfach unter den Tisch." Auf insgesamt 10,8 Prozent addiere sich der Anteil der "verlorenen Stimmen".

Dabei gälten die üblichen Gründe für eine Fünfprozenthürde bei einer Europawahl gar nicht. "Das Europaparlament muss schließlich keine Regierung wählen und stützen", so von Arnim. "Jede weitere Zersplitterung schwächt aber das Europaparlament gegenüber dem Rat," entgegnete der Brüsseler Abgeordnete Klaus-Heiner Lehne (CDU). "Auch bei uns braucht man stabile Mehrheiten".

Derzeit gibt es im Europäischen Parlament 164 Parteien, die sich in sieben Fraktionen zusammengefunden haben (Christ- und Sozialdemokraten, Liberale, Grüne, Linke, Konservative und Europagegner). Es wird erwartet, dass sich auch die meisten Vertreter deutscher Kleinparteien einer der großen Fraktionen anschließen und die Zahl der fraktionslosen Abgeordneten nur wenig erhöhen würden.

Zersplitterung des deutschen Abgeordnetenkontingents

Deshalb setzten die Vertreter der Altparteien nun ganz auf die nationale Karte. "Ein Verzicht auf die Fünfprozenthürde würde die Durchsetzung deutscher Interessen schwächen", sagte der CDU-Abgeordnete Elmar Brok. Derzeit seien deutsche Abgeordnete zum Beispiel ungewöhnlich oft Fraktions- oder Ausschussvorsitzende. Dies sei bei einer Zersplitterung des deutschen Abgeordnetenkontingents in Gefahr.

Das Bundesverfassungsgericht hatte 1979 die Fünfprozenthürde bei Europawahlen gebilligt, sie 2008 aber bei Kommunalwahlen beanstandet. Deshalb hofft von Arnim nun auf einen Erfolg auch bei der Europawahl. Das Urteil wird in einigen Monaten erwartet.

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3 Kommentare

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  • DB
    Dr. Björn Benken

    Es sind nicht nur 2,8 Mio Wählerstimmen betroffen, es geht in Wirklichkeit um mehr als 10 Millionen Stimmen, die entweder gar nicht abgegeben werden (weil die Anhänger einer kleinen Partei frustriert zu Hause bleiben) oder für eine andere Partei als die tatsächliche Lieblingspartei abgegeben werden (weil man seine Stimme ja nicht "verschenken" will). Nur ein geringer Teil der Anhänger einer Kleinpartei (bei der letzten Europawahl waren es eben jene 2,8 Mio) bekennen sich in der Wahlkabine mutig zu ihrer Lieblingspartei, obwohl sie wissen, dass ihre Stimme am Ende bei der Sitzverteilung gar nicht berücksichtigt werden wird.

     

    Dabei könnte man die Benachteiligungen aufgrund der 5%-Klausel sogar stark abmildern, ohne die Sperrklausel selbst abzuschaffen. Man müsste nur den Wählern eine Ersatzstimme einräumen für den Fall, dass ihre Lieblingspartei an der 5%-Hürde scheitert. Dies könnte z.B. dadurch geschehen, dass die Wähler auf dem Stimmzettel die erstpräferierte Partei mit einer '1' und ihre Ersatzwahl mit einer '2' kennzeichnen. Dann hätte jeder Wähler die Möglichkeit, ehrlich zu wählen, statt sich taktisch verbiegen zu müssen.

     

    Dass sich das Bundesverfassungsgericht bisher stets kategorisch geweigert hat, diese Möglichkeit überhaupt zu prüfen, ist sehr bezeichnend für die Arbeitsweise des Gerichts. Auch in der Verhandlung am 3. Mai ging es ausschließlich um die theoretische Rechtmäßigkeit einer Sperrklausel, nicht aber, ob die real existierende Sperrklausel (ohne kompensierende Ersatzstimme) auch verhältnismäßig ist. Immerhin wird durch sie ein sehr hoher verfassungsrechtlicher Grundsatz - nämlich die Gleichheit der Wahl - in eklatanter Weise verletzt. Statt dessen wurden angebliche Sachverständige wie z.B. Prof. Hermann Schmitt aus Mannheim vorgeladen, der eine etwaige Abschaffung der Sperrklausel als einen ungerechtfertigten Vorteil der Kleinparteien im politischen Wettbewerb darzustellen versuchte.

     

    Ich bin gespannt, wie lange dieses Trauerspiel noch weitergeht und wann das Bundesverfassungsgericht die Instrumentalisierung des Wahlrechts durch die etablierten Parteien endlich mal als das bezeichnet, was es ist: eine Sicherung der Macht mit verfassungswidrigen Mitteln.

  • G
    Geisterhoernchen

    Wenn all die Stimmen, genauer die Mandate, die an Parteien unter 5% gehen den anderen Parteien zugeschlagen werden, welche über 5 % erreichten, so hat das ein unglaublich negativen Beigeschmack, den ich hier nicht näher erläutern möchte.

    Fest steht allerdings, Demokratie......ist DAS NICHT!

  • AK
    andreas k.

    Wer die 5-%-Hürde aus "Stabilitätsgründen" fordert, könnte wenigstens mal konsequent sein und sich offen für das stabilste System, nämlich das Ein-Parteien-System, aussprechen. Genau diese Art von Denke ist sowas nämlich, wenn die Stabilität von Parlamenten über das freie, gleiche Wahlrecht gestellt wird.