PETER UNFRIED über CHARTS: „Jaaaa, wir sind zusammen!“
Merkel-Land (1): Was tun mit Christiansen? Schade, dass die ARD keine Saaldiener hat
Ein Mann verabredete sich mit seiner Frau im Kino. Er kam aber zu spät und setzte sich im Dunklen neben die falsche Frau. Nach dem Film ging er dann mit der falschen Frau nach Hause und lebte sein Leben zu Ende. Die Sache wurde von beiden niemals thematisiert.
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Erst als die sieben gemeinsamen Kinder aus der Zeit mit der richtigen Frau dem Mann auf dem Totenbett keine Ruhe ließen, gab er an, sein Handeln sei im historischen Zusammenhang zu begreifen – es spiegele die so genannte „Nüchternheit der Merkel-Jahre“.
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Das bleibende Bild der ersten Woche Merkel aus Sicht des Medienbeobachters: Sabine Christiansen (ARD), ganz und gar nicht nüchtern, neben Friede Springer-Witwe auf der Tribüne des Parlamentssaales bei der Kanzlerwahl. Und damit es auch jeder kapierte, lasen die Frauen Bild und Welt. Da ist der interpretatorische Spielraum eher gering. Die Boulevardschlagzeile zu diesem Bild würde lauten: „Jaaaa, wir sind zusammen!“
Nun weiß jeder um die problematische Verfasstheit des so genannten Hauptstadtjournalismus. Auch erinnert man sich selbstverständlich daran, wie unverblümt Christiansen im Frühherbst 2005 nach dem TV-Duell zwischen dem Kanzler und Angela Merkel Propaganda für Letztere gemacht hat. Und dennoch: Es handelt es sich um einen erstaunlich selbstbewussten und in dieser Form bisher einzigartigen Akt. Insofern ist die Ehrlichkeit gleichzeitig zu bewundern und zu fürchten, denn sie lässt ahnen, was noch kommen kann. Was Christiansen (sich) geleistet hat, ist vermutlich nichts weniger als das offizielle Spucken auf die Grundregeln und den Ethos des Journalismus.
Selbst die FAZ kam nicht umhin zu registrieren, dass die Journalistin sich im Plenarsaal dermaßen „unkontrolliert erfreut“ gezeigt habe, dass „die Saaldiener einschreiten mussten“. Immerhin taten sie das. Die ARD hat, nach allem, was man weiß, keine Saaldiener.
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Berlin, Kreuzberg, 27. November 2005. Ein alter Mann an der Theke eines Zeitschriftenladens. Quasselt den Türken dahinter zu. Es geht um einen Zettel, den er in der Hand hat. Irgendein Glücksspiel. Da fällt sein Blick auf den aktuellen Spiegel-Titel: „Die 50er Jahre. Vom Trümmerland zum Wirtschaftswunder“. Zu sehen sind: Adenauer, Walter, Buchholz, Brandt, Baal, Knef. Und Elvis. Das war Deutschland! Ein Ruck geht durch das Männlein. „Ja, das waren noch Zeiten“, sagt er. Sagt er tatsächlich. Zupft aufgeregt am Trainingsanzug. Dass er sich nicht reinpisst, ist alles. Aber da fällt ihm etwas ein. „Und heute …“ – Na was? „Heute geht alles den Bach runter.“ Sagt er auch tatsächlich. „Ich hab die Zeiten nicht erlebt“, sage ich to shut him up. Darauf er: „Die kommen nicht wieder.“
Wem das zu banal ist: Klar, aber es ist halt Wirklichkeit. Und wie immer ist der Spiegel da ganz nah dran. Offensichtlich hat man die inhaltliche Kritik der letzten Wochen aufgenommen. Der Titel Nr. 48 verkündet den Paradigmenwechsel. Wenn dieses Land sich partout nicht von Gabor Steingart modernisieren lassen will, kriegt ihr: Landserromantik für verbittert-nostalgische Trainingsanzugträger. Am Ende war es dann seltsamerweise so, dass ich kaufte, der Alte nicht. Aber vielleicht ist es ja schon nächste Woche andersherum.
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Die Charts im November: Buch: Konsumrebellen – Joseph Heath/Andrew Potter
Fußball: Sibusiso Zuma (Arminia Bielefeld), Album: für die nicht wissen wie – Erdmöbel
Songs: Street Fighting Man – Rolling Stones, für die nicht wissen wie – Erdmöbel (Radiomix), Gimme, gimme, gimme – Abba, pull the curtains – Grandaddy, The Painter – Neil Young, (Just like) Starting Over – John Lennon
Fragen zum Saaldiener? kolumne@taz.de Morgen: Bernhard Pötter über KINDER
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