Die Beckenpinkler: Merkt doch keiner
Viele tun es, keiner gibt es zu: Nicht nur die olympischen Schwimmer, auch die Berliner urinieren ins Wasser. Die taz weiß, warum
Endlich ist es raus. Was muss, das muss. Viele tun es. Erwachsene versteckt. Kleinkinder offen. Egal ob jung oder alt – Berlins Badeanstalten sind ein öffentliches Pissoir. Die Mehrheitsgesellschaft empfindet das als eklig, unhygienisch und ungesund. In Wirklichkeit ist es eher eine kulturelle Frage. Denn das Wasser in den Becken ist gechlort und Urin an sich unschädlich.
Die US Olymipaschwimmstars Michael Phelps und Ryan Lochte waren es, die bei der Olympiade in London ein lange gehütetes Tabu gebrochen haben: „Everyone pees in the pool“, verriet der 18-fache Olympiasieger Phelps dem Wall Street Journal. „Wenn wir beim Training zwei Stunden im Wasser sind, gehen wir nicht raus, um uns zu erleichtern“. Man lasse es beim Schwimmen einfach laufen, bestätigte Lochte in einem Video. Aber auch beim Pinkeln im Wasser brauche man Übung, um es zum Profi zu bringen.
Was auf Olymipiasieger zutrifft, gilt für das allgemeine Schwimmbad-Publikum allemal. Der englische Guardian startete nach Bekanntwerden des Geständnisses eine Umfrage unter Briten. „Haben Sie je in ein Schwimmbecken gepinkelt?“ Eine Zwei-Drittel-Mehrheit antwortete: Ja.
Die taz hat sich jetzt in Berlins Badeanstalten umgehört. „Das stimmt leider“, bestätigt ein Schwimmeister des Kreuzberger Prinzenbades. „Die Leute pinkeln ins Becken, und nicht nur Kinder“. Die Badegäste sind da weniger offen. Nur eine junge Frau gibt zu,beim Schwimmen schon mal ins Wasser gepinkelt zu haben. Und das sei in einem See gewesen. Mit Ausnahme einer älteren Dame sind sich allerdings alle Befragten sicher: Es gibt genug andere, die das tun. „Das ist eine Sauerei“, sagt ein durchtrainierter Mittvierziger sichtlich angewidert.
Vor kaum etwas ekelten sich Leute mehr als vor den Ausscheidungen anderer Menschen, erklären Mediziner solche Reaktionen. Gerechtfertigt sei das nicht. Messungen zufolge werden in normalen Hallenbädern pro Liter Wasser zwischen 0,7 und 1,6 Milligramm Harnstoff gemessen. An einem Tag kämen schon mal 200 Liter Urin zusammen, wissen Experten. Allerdings sind diese verteilt auf eine Gesamtwassermenge von einer Million Liter. Laut Berliner Bäder Betriebe sieht die Norm DIN 19643 einen Grenzwert von einem Miligramm Chlor pro Liter Wasser vor. Chlor wird zur Desinfizierung und Abtötung von Erregern eingesetzt.
In Frankreich sei vor einiger Zeit mal ein Test gemacht worden, erzählt ein anderer Bademeister. „Da wurde eine Flüssigkeit ins Wasser gekippt. Pinkelte einer rein, verfärbte sich das Wasser. „So was könnten wir auch in Berlin gebrauchen, haben wir gedacht“. Doch dazu kam es nie. Die Substanz sei in Frankreich aus dem Verkehr gezogen worden. „Ein Badegast hatte geklagt, weil sich nicht nur das Wasser verfärbt hatte, sondern auch seine Haare.“
Das Tabu, nicht ins Wasser zu pinkeln, sei eine Kulturfrage, sagen Mediziner. Ungesund oder gar gefährlich sei es nicht. Im Gegenteil: Urin ist in der Regel steril, Harnstoff ein wichtiges Medikament. „Das ist ein überzüchtetes Getue“, sagt eine Internistin. „Alles soll hypersteril sein, aber alle Welt hat Allergien, weil wir nicht mit Dreck und Ausscheidungen in Berührung kommen“.
Physiologisch ist der Drang, ins Wasser zu pissen, so erklärbar: Die Kälte übt einen Reiz auf die Blase aus. Aber nicht nur ein schwaches Harnwegssystem und Bequemlichkeit sind Gründe, warum so viele Menschen dem Druck erliegen. „Das ist auch ein halberotischer Moment. Das hat was Cooles und Subersives, weil es verboten ist“, sagt ein Psychologe. „Alle sehen einen, aber keiner weiß, was man gerade macht.“
Wenn er sich da mal nicht täuscht. Axel Ott arbeitet als dienstältester Bademeister Berlins lange genug im Strandbad Wansee, um zu wissen, wie Badegäste aussehen, wenn sie im Wasser Wasser lassen. Bei schönem Wetter sei es besonders auffällig. Selbst Wasserscheue gingen dann in den See. „Aber nur so tief, dass die Badehose bedeckt ist. Sie schauen sich um, ob niemand guckt, erleichtern sich und haben plötzlich einen ganz entspannten Gesichtsausdruck.“ Auch er kenne dieses Gefühl, sagt Ott und lacht. „Das ist ein menschliches Bedürfnis“.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen