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Kommentar EurokriseDie Macht der Zeit

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Europäische Parlamente verlieren seit Beginn der Eurokrise zunehmend an Macht. Was taugt ein Parlament, das nicht entscheidungsfähig ist?

V or aller Augen vollzieht sich seit der Lehman-Pleite eine fundamentale Machtverschiebung. Die Parlamente verkommen zu gut geölten Abstimmungsmaschinen, während die Entscheidungskompetenz in immer kleinere, exklusive Gremien mit fragwürdiger demokratischer Legitimation auswandert. Immer muss es in den Parlamenten ganz schnell gehen, weil Märkte nervös werden oder Sachzwänge dies leider erfordern.

Beim Griechenland-Paket ist das, wie bei der Bankenrettung und ESM, wieder so. Schon am Freitag soll der Bundestag alles durchgewunken haben. So wird es wohl kommen. SPD und Grüne opponieren sowieso nur halbherzig. Denn die Regierung tut nun ja, was Rot-Grün schon lange will: Die Zinszwinge für Athen wird etwas gelockert. So handeln SPD und Grüne wie immer: Eigentlich sind sie dagegen, aber in jeder Abstimmung dafür. Rot-Grün hat sich in dieser Zwickmühle häuslich eingerichtet.

Nüchtern machtpraktisch kann man fragen, ob es nicht egal ist, ob der Bundestag in Windeseile oder eine Woche später dem Plan der Troika zustimmt. Das Ergebnis ist so oder so das Gleiche. Was spricht also gegen das Tempo? Der Bundestag wird zur Bühne einer Farce, wenn ein paar hundert Abgeordnete mit Ja stimmen, aber nur ein Bruchteil begreift, worum es geht. Dass Parlamentarier 130 Seiten komplizierte Vertragsmaterie in 48 Stunden verstehen, ist schlicht zu viel verlangt. Und das sollen sie ja auch gar nicht. Sie sollen nur den reibungslosen Ablauf nicht stören.

taz
STEFAN REINECKE

ist Parlamentskorrespondent der taz.

Bei der Bankenrettung gab es Situationen, in denen schnelles Handeln zwingend war, um mit Garantien Schlimmeres zu verhindern. Was damals zur Ausnahme erklärt wurde, ist Routine geworden. Die Zeit drängt immer – und die Regierung weiß, dass das Parlament pariert.

Ein Parlament, das sich derart gebrauchen lässt, verliert Macht, Selbstbewusstsein, Ansehen. Was taugt ein Parlament, das unfähig ist, über fundamentale Fragen zu entscheiden?

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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4 Kommentare

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  • S
    SunJohann

    Ein überaus intelligenter, ausgezeichneter Kommentar, lesenswert. Heute morgen in der Deutschlandfunk-Presseschau auszugsweise zitiert. Allerdings: Je schneller die ewig alle Einwände weglächelnden Politclowns, je eher die arroganten Volksverräter aller Parteien zustimmen, um so eher ist das Ende, die Katastrophe da. Zum Aufatmen für uns alle, für einen Neuanfang, bis wieder alles in Scherben fällt. Wir sind gegenwärtig Zeugen einer großen Zeit - nach dem fröhlichen Ende des Ostblocks kommt das heitersüße Ende der CDU-Helmut-Kohl-Schnapsidee von der europäischen Union samt Vernichtungswährung Euro. In ganz Europa dann DDR 2.0 - das hat was, bei vielen löst das sicher Sadomaso-Prickeln aus. Wem so was gefällt, der kann sich lustvoll freuen, dem geht es röchelgut. Wohlstand durch Inflation, durch gigantische Verschuldung und Heißlaufen von Gelddruckmaschinen - das ist endkrass. Hosenanzug und Rollifahrer glauben daran – Dramaturgie einhalten, und ab mit beiden in den kalten, lichtlosen Sadomaso-Keller. Auspeitschen, aber nicht symbolisch!

  • GN
    Georg Nowak

    Einfach ankreuzen:

     

    Ein souveräner demokratischer Rechtsstaat darf auf der Grundlage parlamentarischer Mehrheitsentscheidungen

     

    [ ] Haftstrafen für Verbrechen erhöhen

    [ ] die Mehrwertsteuer erhöhen

    [ ] Kapitalertragssteuern erhöhen

    [ ] Strafen auf Steuerhinterziehung erhöhen

    [ ] Sozialleistungen erhöhen

    [ ] die Aufnahme von Schulden erhöhen

    [ ] die Ausstoßmenge klimaschädigender Stoffe erhöhen

    [ ] Resthaftzeiten für Strafgefangene erlassen

    [ ] die Mehrwertsteuer abschaffen

    [ ] Steuerhinterziehung straffrei stellen

    [ ] Sozialleistungen abschaffen

    [ ] die Rückzahlung von Schulden einstellen

    [ ] den Ausstoß klimaschädigender Stoffe verbieten

     

    Die als richtig vermuteten Aussagen kurz überdenken und dann vergessen oder eine Suchmaschine füttern:

    Vollgeld, IWF, Benes, Kumhof

  • K
    kolodactylon

    Zum Vergleich.. Das komplette dritte Troika-Memorandum, welches zuletzt im griechischen Parlament mit der glorreichen Mehrheit von 153:147 Stimmen angenommen wurde, ist 1470 Seiten stark und beinhaltet ca. 700 Sub-Paragraphen. ('Sub' deswegen, weil nicht über die einzelnen Punkte gesondert abgestimmt werden durfte, sondern nur über das Paket als Ganzes.) Die griechischen Abgeordneten bekamen ganze 14 Stunden Zeit sich mit diesem 'Text' auseinanderzusetzen, bevor die verbindliche Zusage erfolgen sollte, ansonsten..

     

    Noch Fragen warum die Menschen auf den Strassen der Ur-Polis die Mittelfinger gegen ihr Parlament und in Richtung Berlin und Brüssel recken?

  • V
    vic

    "Was taugt ein Parlament, das unfähig ist, über fundamentale Fragen zu entscheiden?"

    Gute Frage: Nichts.

    Was taugt eine Opposition, die Regierungspolitik macht?

    Auch nichts.