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Kommentar Protest in ÄgyptenSchmerzhafte Hegemonie

Kommentar von Kai Hafez

Auch wenn es wehtut: Die ägyptische Opposition muss Demokratie ernst nehmen und lernen, sich gegebenfalls den Mehrheiten anzupassen.

R eden von Staatsoberhäuptern können in Zeiten des Aufruhrs einer Bevölkerung die emotionalen Wogen glätten und die Menschen zusammenführen. Die Rede von Präsident Mursi hat diese Qualität vermissen lassen. Die erhofften solidarischen Signale an die Opposition – sie kamen nicht. Stattdessen war die Rede ein Mittel, um Zeit zu schinden bis zum geplanten Referendum über die neue Verfassung Mitte Dezember.

Die Muslimbrüder wollen die Gunst der Stunde nutzen, um zwar keinen Gottesstaat nach iranischem Vorbild, aber eine „islamische Demokratie“ zu verabschieden. Dass Demokratie eben auch die Hegemonie der Mehrheit bedeuten kann, erleben die säkularen Kräfte derzeit schmerzhaft.

Es war abzusehen und zeigt sich jetzt deutlich, dass Ägyptens neues politisches System zwar eine Demokratie mit freien Wahlen, Versammlungs- und Medienfreiheit werden kann, dass sie aber nicht lupenrein säkular werden würde. Um ehrlich zu sein: auch westliche Demokratien haben dafür Jahrhunderte gebraucht: die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau beispielsweise erfolgte erst mehr als hundert Jahre nach der amerikanischen Verfassungsgebung.

privat
Kai Hafez

ist Professor an der Uni Erfurt. Bis Ende Januar war er als Gastprofessor in Kairo und bei den ersten Protesten auf dem Tahrir-Platz dabei. Zuletzt erschien von ihm: „Heiliger Krieg und Demokratie“ (Transcript Verlag, 2009).

Und hier kommt die Verantwortung der Opposition ins Spiel. Die jetzt vorgestellte Konstitution hat sicher religiöse Makel, aber sie findet wohl eine Mehrheit in der vielfach konservativen Bevölkerung Ägyptens. Die Opposition muss zwar auf Wahlen, Gewaltenteilung und Freiheitsrechte pochen, zugleich aber die islamistische Mehrheit respektieren.

Als man im September die umstrittene Auflösung des islamistisch dominierten Parlaments durch die Justiz bejubelte, folgte die Opposition selbst antidemokatischen Reflexen. Ebenso ist Gewalt gegen Büros der Muslimbrüder zu verurteilen. Auch die Opposition versäumt es, Signale zu setzen.

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8 Kommentare

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  • J
    Joudy

    Es gibt ja doch die merkwürdigen Islamwissenschaftler und Orientexperten.

    Nach Kai Hafez ist Demokratie die Diktatur der Mehrheit. Also darf die Regierungsmehrheit in Ägypten tun und lassen, was sie will. Die Opposition muss zustimmen. Auch " wenn es weh tut". Und warum? Für den Herrn Hafez liegt der Grund darin, dass die Muslimbrüder eine " islamische Demokratie" anstreben und zwar nicht nach dem iranischen Vorbild. Jetzt verstehe ich den Herrn Hafez. Alles ist im Moment erlaubt in der Region, nur nicht was nach Iran riecht.

    Erstaunlicherweise argumentiert der Islamwissenschaftler wie die Gelehrten von Saudiarbien.

  • D
    dieter

    Wir leben in einem Land in dem die Trennung von Kirche und Staat noch lange nicht vollzogen ist.

    Ein ehemaliger Pfarrer als Präsi, eine Pfarrerstochter als Kanzlerin, Konkordatsverträge, Kirchensteuer und die meisten Kindergärten sind christlich geführt, mit extra christlichem Arbeitsrecht u. A. dürfen nur aktive(!) ChristInnen im Kindergarten arbeiten.

    Jetzt grade hat unsere (christliche) Regierungspartei sinngemäß beschlossen, dass beim Thema Ehegattensplitting unser Grundgesetz keine Anwendung finden soll, aus religiösen Gründen.

    Ansonsten haben wir eine CDUCSUSPDGRÜNEFDP Einheitspartei, wenn es um die Umsetzung der Neoliberalen Wünsche unserer Reichen Mitbürger geht.

    Wir haben mehr als genug Gründe hier für Demokratie zu kämpfen, und wer meint, wir wären bereits soweit.

    Der soll einfach Mal unser Grundgesetz lesen und mit der Wirklichkeit vergleichen!

    Wir haben noch einen weiten Weg hin zu einer echten Demokratie.

    Die Ostdeutschen sind für die Demokratie auf die Straße gegangen, das ist Mal ein Grund stolz zu sein!

    Wir Wessis haben unsere "Demokratie" zusammen mit dem Marshall Plan in den Allerwertesten gesteckt bekommen, und geben jetzt den Ägyptern gute Ratschläge?!

    Also erstmal vor der eigenen Haustür kehren.

    Den Ägyptern wünsche ich auf ihrem Weg das Beste und mögen sie auch von unseren Fehlern lernen.

  • H
    hschweizer

    Genau: Gebt klein bei vor den Islamofaschisten. Sie sind ja demokratisch gewählt. Und Menschenrechte sind ja eh nur Peanuts. Gab's sowas inklusiver der Appeaser nicht schon mal?

  • A
    Antifa

    Also hätte die taz auch nicht wenn sich die Machtergreifung der Nazis wiederholen würde? Würde sich die taz dann auch einfach der Mehrheit anpassen?

     

    Faschismus muss mit allen Mitteln bekämpft werden, egal ob es Nazis sind oder Islamisten!

  • R
    Rudi

    So ein stinkdoofer Kommentar.

    Was würde er schreiben, wenn irgendwo ein katholischer Staat nach den 10 Geboten errichtet würde????

  • DO
    das oe

    Schwer zu ertragender Artikel. Ich will nun gar nicht anfangen zu diskutieren, ob wir uns Trennung von Kirche und Staat und die Gleichberechtigung so laut auf die Fahnen schreiben sollten.

    Aber auch wenn im Artikel die Argumentation logisch klingt (die Mehrheit muss man akzeptieren) wird die Situation völlig falsch dargestellt. Das Thema Angst vor dem Islam ist unser Thema, nicht das der Ägypter. Viele der Ägypter die im Moment auf der Straße sind, haben keineswegs ein grundsätzliches Problem mit einem islamisch beeinflussten Staat. Wie viel ist ein Streitpunkt, natürlich, aber es geht im Moment um etwas vollkommen anderes, um etwas vornehmlich politisches: Die Unruhen haben angefangen als Herr Mursi die Gewaltenteilung quasi aufgehoben hat und damit die Demokratie, die noch gar nicht entstanden war wieder abgewürgt hat. Die Ägypter gehen auf die Straße um nicht das nächste totalitäre (undemokratische!) System vorgesetzt zu bekommen. Wie zum Teufel soll da das Argument "Ihr müsst die Demokratie auch respektieren" dazupassen?

    Ich finde man muss das ägyptische Volk dafür bewundern, dass es nicht die Hoffnung verliert, trotz allen Rückschlägen und Schwierigkeiten. Dazu gehören eben solche Artikel in der westlichen Presse. Ich wünschte die Leute hier wäre einfach ein wenig stiller, wenn sie schon keine Unterstützung liefern, sei sie nur moralisch, so dass irgendwann wirklich eine Demokratie entstehen kann.

  • G
    Georg

    Ach so ist das, wieder was gelernt.

     

    Vielleicht hat die SPD in den Dreißigern auch was falsch gemacht.

  • I
    immokant

    Na toll, jede neu beginnende Demokratie erhält die vielen Jahrhunderte auf dem Weg zu ihr als großzügigen Rabatt. So wird das nie ein Ende finden mit gewaltbereiten Herrschern.