Kommentar Vergewaltigungen in Indien: Die Mittelschicht ist nicht besser
Nirgendwo ist die Gewalt gegen Frauen in Indien größer als innerhalb und gegenüber den sozialen Unterschichten. Doch sie ist auch in den Mittelschichten verbreitet.
D er Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen ist einer der wenigen indischen Intellektuellen, die dem verführerischen Diskurs einer neuen Moderne Indiens nicht folgt. Doch hat er die Ewiggestrigen seines Landes nun gemahnt, Vergewaltigungsverbrechen nicht als Erfindung der modernen Gesellschaft hinzustellen. „Wer sagt, Vergewaltigungen gäbe es nur in Städten und nicht in Dörfern, vergisst all die Frauen der Unberührbaren-Kaste, die fortwährend vergewaltigt werden.“
Tatsächlich ist nirgendwo die gesellschaftlich geduldete Gewalt gegen Frauen in Indien größer als innerhalb und gegenüber den sozialen Unterschichten. Die Vergewaltigung des unberührbaren Dienstmädchens ist notorisch.
Doch darüber hat sich noch nie jemand aufgeregt. Hier, in der doppelten Unterwürfigkeit von Frau und niedrigem Kastenmitglied, ist die Wurzel für Indiens oftmals ungehemmte Männergewalt.
berichtet seit 2009 für die taz und die Zeit aus Indien und Pakistan. Davor arbeitete er von 1990 bis 1997 als Korrespondent in Tokio und danach 12 Jahre in Peking, wofür ihm 2007 der Liberty Award verliehen wurde.
Trotzdem greift auch Sens Kritik zu kurz. Denn die Gewalt gegen Frauen hat gerade in der prosperierenden Mittelschicht, die jetzt von vielen etwas voreilig als Schoß der Proteste gefeiert wird, ihren neuen Nährboden gefunden. Tatsächlich demonstriert bisher vor allem eine intellektuelle Avantgarde aus dem Universitäts- und Aktivistenmilieu, nicht die gerade zu etwas Geld gekommene Arbeiter- oder Angestelltenfamilie.
In ihr aber setzt sich in Indien heute ein neues materielles Wertesystem durch, in dem der Sohn als Stammhalter immer noch weit oben rangiert, die Tochter aber oft erst auf Eigentumswohnung und Auto folgt. Also treibt man sie lieber ab. Das geschieht heute viel häufiger in den Städten als auf dem Dorf. Bis zu 85 Millionen Frauen sind nach Forschungsberichten auf diese Weise allein in Indien und China verschwunden. Ihr Fehlen wird die Gewalt gegen Frauen weiter ansteigen lassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten