Leben nach der Fabrikschließung: Papierlos glücklich
Das Leben der Bürger von Albbruck war 130 Jahre lang untrennbar mit dem Papierwerk verbunden. Vor einem Jahr schloss es. Und jetzt?
ALBBRUCK taz | Harald Glück hat seinen Erinnerungen ein Haus gebaut. Eine kleine Holzhütte. Sie steht neben der Badener Flagge in seinem Garten, zwei überkreuzte Feuerwehräxte schmücken eine Außenwand, drinnen hängt eine Marionette in Feuerwehrkluft. Der 49-jährige Glück war Kommandant der Werksfeuerwehr der Papierfabrik Albbruck. Seit knapp einem Jahr ist es damit vorbei.
Man könnte sagen, Albbruck und die Papierfabrik, sie haben das Trennungsjahr jetzt hinter sich. Hinter ihnen liegt eine Ehe, die mehr als 140 Jahre dauerte, so lange, dass es selbstverständlich war, dass Albbruck und die Papierfabrik zusammengehören. Aber dann kam die Globalisierung, kam ein finnischer Investor, nahm Albbruck die Papierfabrik und machte sie dicht.
Albbruck ist eine kleine Gemeinde am Hochrhein, einer Region zwischen Bodensee und Freiburg, direkt an der Schweizer Grenze. 7.000 Menschen leben in dem Dorf, das es nur gibt, weil es die Papierfabrik gab. 1872 gegründet, wuchs die Papierfabrik, und der Ort wuchs mit.
Es waren gute Zeiten, Ort und Papierfabrik wurden reicher, ein Schwimmbad wurde gebaut, ein Rathaus, ein Altenheim, es gab immer was zu tun. Blumenkästen an den Fenstern, begrünte Verkehrsinseln, Straßenausbau, Neubauviertel. 570 Menschen und mehrere hundert Zulieferer aus Albbruck und Umgebung arbeiteten in und für die „Papierie“, wie sie hier genannt wird, einer von ihnen ist Glück.
Die Fabrik war das Leben
Für ihn war die Papierfabrik das Leben. Mit zwei Klassenkameraden entschloss er sich, 1979 eine Lehre als Papiermacher zu beginnen. „Wir waren zusammen in den Windeln, waren zusammen im Kindergarten, dann in der Schule, und wir sind zusammen in die Papierfabrik“, sagt Glück. „Es hieß früher immer: Geh in die Papierie! Wenn man da drin ist, dann wird man alt.“
Albbruck, das ist ganz viel Papierfabrikgelände: Werkswohnungen, das Gebiet um den kleinen Fluss Alb, der Tennisplatz. Früher ging eine Straße durch die Fabrik, auf dem Weg zur Schule zählten die Kinder die Holzlaster und besuchten ihre Väter, die Schicht arbeiteten. Zur Weiberfasnacht fielen die Frauen in die Papierfabrik ein und schnitten den Geschäftsführern die Krawatten ab. Die Fußballvereine, gesponsert von der Papierfabrik.
Über Generationen hinweg arbeiteten die Menschen hier, viele per Handschlag eingestellt, sie verdienten gut und blieben – oft viele Jahre. Von der Papiermacherfamilie sprechen viele im Ort. Vor allem die, deren Väter, Großväter und Urgroßväter schon in der Papierfabrik arbeiteten. Wie der 31-jährige Daniel Deak, der zusammen mit seinen Eltern auf 54 Jahre Papierfabrik kommt. Wie Glück, der dort 33 Jahre arbeitete, seine erste Frau in der Papierfabrik kennengelernt hat. Und die zweite auch.
Papier für den „Playboy“
Von Glücks Terrasse aus kann man die Schornsteine der Papierfabrik sehen. Sie qualmen nicht mehr. Die Papierfabrik war eines der größten Unternehmen der Region und produzierte jährlich 320.000 Tonnen gestrichene Magazinpapiere in Rolle und Format. Der Playboy wurde einst auf Albbrucker Papier gedruckt, Werbeprospekte von Ikea und Waschmittelkartons.
Wenn eine Ehe so vor sich hin plätschert, dann kann es sein, dass man Probleme kleinredet oder gar übersieht. Im August 2011 war die Papierfabrik mit ihren 570 Mitarbeitern vom finnischen Weltmarktführer für Papier, dem börsennotierten UPM, übernommen worden, eine Erleichterung, der Vorbesitzer war in finanzieller Schieflage.
Die Albbrucker waren skeptisch, was „die aus Helsinki hier wollen“, aber mit dem Ende hatten sie nicht gerechnet. Dass da ein börsennotierter Konzern ihre Papierfabrik übernimmt, um sie zu schließen. Dass Wörter wie „Globalisierung“ und „Marktbereinigung“ auf einmal zum Alltag gehören.
Auch Glück nicht. Zuletzt war er Fachkraft für Arbeitssicherheit, Werksfeuerwehrkommandant und Brandschutzbeauftragter. Das Wichtigste aber war für ihn die Werksfeuerwehr. „Ich bin Feuerwehrmann mit Leib und Seele“, sagt Glück.
Jetzt die Existenzsorgen
Sie waren 38 Mann in der Werksfeuerwehr. Wenn nachts der Piepser Alarm schlug, ist Glück aus dem Bett gesprungen und in die Papierfabrik gerast. Jetzt könnte er durchschlafen, wenn da nicht die Existenzsorgen wären. Für die Freiwilligen Feuerwehren in der Region war die Werksfeuerwehr eine wichtige Unterstützung. Jetzt, sagt Stefan Kaiser, Bürgermeister von Albbruck, haben wir ein Sicherheitsproblem.
Wenn eine Ehe in die Brüche geht, kann das ein Schock sein. „Die Papierfabrik“, sagte Bürgermeister Kaiser damals, „ist das Herz der Gemeinde, und das wird uns jetzt auf ganz brutale Art und Weise herausgerissen.“
Für die Papierfabrikmitarbeiter war es einfach nur bitter: Im Gerätehaus der Feuerwehr wurde ihnen das Ende verkündet. „Es gab eine Betriebsversammlung, in der das einfach mit PowerPoint an die Wand geschmissen wurde“, sagt Deak. Der Elektrotechniker hat 13 Jahre in der Papierfabrik gearbeitet, auch er war in der Werksfeuerwehr. Glück war sein Chef.
Demo fürs Werk
Aber um eine Ehe kann man auch kämpfen, darum demonstrierten die Menschen aus der Region auch für ihre Papierfabrik. Glück war für die Sicherheit in der Papierfabrik zuständig, hat mit seinen Leuten von der Werksfeuerwehr aufgepasst. Auch Deak war da. Eigentlich hätte er gern selbst demonstriert. „Das habe ich dem Kommandanten Glück zuliebe gemacht“, sagt er, „er war auf das Personal angewiesen.“ Die Papiermacherfamilie hält eben zusammen. Dafür war Glücks Frau auf der Demo.
Sie haben gesungen, das Badnerlied mit einer neuen Papierfabrik-Strophe. An der Bundesstraße, die an der Papierie vorbeiführt, haben sie einen Kerzentisch aufgestellt. Firmen aus der Region haben palettenweise Kerzen gespendet. Gebracht hat es nichts, am 31. Januar 2012 wurde die Papierfabrik geschlossen.
Wenn klar ist, dass eine Beziehung nicht zu retten ist, dann muss man das erst mal verkraften. Und neue Wege gehen, auch wenn es schwerfällt. Oder sich ablenken. In Glücks Fall war das eine Transfergesellschaft. „Ich habe etwa 15 Qualifikationen gemacht, also Word-, Excel-, Powerpoint-Kurse, habe Business-Englisch belegt, Regalprüfer und vieles mehr“, sagt er.
Die Schulungen für die ehemaligen Papierfabrikmitarbeiter finden in der Papierfabrik statt. „Das ist hart“, sagt Glück. Er hat damals ein Schreiben bekommen, dass er nur noch auf direktem Weg in die Werksschule darf. Und nicht mehr ins Gerätehaus. „Ich war nie wieder im Gerätehaus“, sagt Glück. Da ist er immer dran vorbeigelaufen. „Man sagt ja, Zeit heilt Wunden, und es fällt mir jetzt leichter. Man gewinnt mehr Abstand, aber es tut trotzdem noch weh.“
Trennung als Chance
Aber irgendwann ist der Trennungsschmerz überwunden. Und man stellt fest, dass eine Trennung auch eine Chance sein kann. Und die haben die Albbrucker genutzt: Die meisten Papierfabrikangestellten haben auch neue Jobs gefunden, alle haben eine Abfindung kassiert. Manche, wie Deak, der mittlerweile in der Schweiz in einem Forschungsinstitut arbeitet, haben sich gar verbessert.
Mitte August hat dann die Karl-Gruppe, ein familiengeführtes Unternehmen aus dem bayerischen Innernzell, die Papierfabrik GmbH übernommen. Die Karl-Gruppe will die Papierfabrik rückbauen und auf dem Gelände ein Wohn- und Gewerbegebiet errichten.
Bürgermeister Kaiser hat sich die Karl-Gruppe gut angeschaut. Er hofft, dass sie es schafft, Firmen anzusiedeln, damit sich die traurige Brache wieder mit Leben füllt. „Es ist die größte Herausforderung in der Geschichte unserer Gemeinde“, sagt er, „aber wir werden das packen.“ Albbruck wird sich verändern, ein neuer Ort werden.
Freier Blick
Nur wenige sind weggezogen, und die Karl-Gruppe beginnt bald mit dem Rückbau, dann passiert auf dem toten Gelände wieder was. Wenn die Karl-Gruppe mit ihrer Arbeit fertig ist, werden die Schornsteine, die Glück heute noch von seiner Terrasse aus sieht, Geschichte sein. Dann hat Glück freien Blick: nach vorn.
Die Papierfabrik-Ehe ist zwar beendet, aber seit dem ersten Januar arbeitet Glück wieder: in einem Ingenieurbüro. An seinem ersten Arbeitstag saßen Glück und seine Frau gemeinsam im Auto. „Jetzt fahren wir wieder zusammen zur Arbeit“, hat sie gesagt, „das ist wie früher, in der Papierie“. Das war schön und schlimm zugleich. Und jetzt, wo ein Job gefunden ist, will er sein nächstes Projekt angehen: wieder Feuerwehrmann werden. Nicht hauptberuflich, aber in einer der Freiwilligen Feuerwehren in der Gegend.
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