Fischer im Koreakonflikt: Schlappen für den Bunker
„Die da drüben machen einem das Leben schwer“, sagt der Fischer Lee Yong San. Mit seinem Boot traut er sich nicht mehr weit hinaus. Zu nahe liegt Nordkorea.
BAENGNYEONG taz | Lee Yong San lebt schon sein gesamtes Leben auf Baengnyeong. Seit 28 Jahren ist er Fischer. Täglich fährt er mit seinem Boot aufs Meer hinaus, doch heute hockt der 58-Jährige auf seinem Fischernetz und flickt Löcher. Weiße Fäden webt er in das gelbe Netz hinein. Hinter ihm ragt ein Militärposten aus dem Felshang heraus, große Lautsprecher stehen von dem Ausguck ab. Davor weist eine Maschinengewehrhalterung Richtung Meer.
Lees Gesicht ist gegerbt von Wind und Wetter, seine Haut viel dunkler als die seiner Landsleute in Seoul. Seinen roten Pullover hat er bis fast oben hochgezogen, den dunkelblauen Anorak trägt er offen. Mit geübten Handbewegungen zwirbelt Lee das drahtige Netz auf, führt die neuen Fasern ein und zieht die Schlingen wieder zu.
„Ich verdiene meinen Lebensunterhalt mit Fischfang. Aber seit den Drohungen aus Nordkorea bin ich unsicher, wann ich rausfahren kann“, erklärt er mit leicht gesenktem Blick. „Früher konnte ich wesentlich weiter rausfahren. Ich fuhr mit dem Boot etwa fünf Minuten in Richtung Nordkorea. Das traue ich mich nicht mehr.“
Baengnyeong: .Die 45 Quadratkilometer große Insel ("Weißflügelinsel") ist Südkoreas westlichstes und zugleich nördlichstes Territorium im Gelben Meer. Die Seegrenze verläuft nur wenige Kilometer nördlich und östlich. Deshalb ist die Insel ein Anlaufpunkt für Flüchtlinge und ein wichtiger Militärposten. Schon öfter ist es hier zu Marinezwischenfällen gekommen. Im März 2010 sank die südkoreanische Korvette "Cheonan", 46 Soldaten starben. Laut Regierung war ein nordkoreanischer Torpedo die Ursache.
Yeonpyeong: Die östlicher gelegene Insel (7 Quadratkilometer, 1.600 Einwohner) liegt noch näher an der Seegrenze und wurde im November 2010 vom Norden aus mit 200 Granaten beschossen. Vier Menschen starben, ein Dutzend wurde verletzt. Nordkorea rechtfertigte den Beschuss mit Schießübungen der südkoreanischen Marine.
Bedrohlich: Am Dienstag hat Nordkorea alle im Süden lebenden Ausländer aufgefordert, aus Sicherheitsgründen Südkorea zu verlassen. Die Regierung in Seoul hat jedoch keine Hinweise auf eine Kriegsmobilisierung im Norden. In Tokio hat derweil Japans Regierung auf dem Gelände des Verteidigungsministeriums zwei "Patriot"-Raketen zur Abwehr nordkoreanischer Raketen aufgestellt und mit Nordkoreas Drohungen begründet. (han)
Militärisches Sperrgebiet
Baengnyeong ist eine kleine Insel ganz im Westen Südkoreas. Nur rund 15 Kilometer liegt die Insel vom nordkoreanischen Festland entfernt. Am 12. März besuchte der nordkoreanische Führer Kim Jong Un den Landstrich gegenüber der kleinen Insel. Und instruierte sein Militär, die Insel ins Visier zu nehmen.
Bei den Bewohnern von Baengnyeong rief diese Anordnung Erinnerungen an den Beschuss der Insel Yeonpyeong im Herbst 2010 wach. Auch die Versenkung der Corvette „Cheonan“ im Frühjahr 2010 fand unweit von Baengnyeong statt.
„Meine Kinder wollen, dass ich die Insel verlasse“, sagt Lee. Sie selbst sind längst weggezogen. Wohnen in Incheon, der Hafenstadt nahe der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. Sechs Millionen Einwohner, internationaler Flughafen, eine Weltstadt. Der Vater wohnt nach wie vor auf der rund 5.000 Einwohner zählenden Insel. Er ist in Baengnyeong geboren, aufgewachsen und hat sein ganzes Leben lang hier gearbeitet. Er will nicht fortgehen. Doch die ständige Bedrohung aus dem Norden untergräbt langsam, aber sicher seine ökonomische Lebensgrundlage.
Militärisches Sperrgebiet
Am Hafen Gobong sind eine Handvoll Fischer gerade dabei, ihr Boot für die Ausfahrt fertig zu machen – unter den wachsamen Augen eines kleinen Militärpostens. Der Hafen ist eigentlich militärisches Sperrgebiet. Fotografieren ist nicht erlaubt. Fragen zur aktuellen Situation sind nicht erwünscht. Auch nicht von einer Gruppe fünf alter Frauen, die es sich auf den angespülten Muscheln neben einigen alten Holzplanken gemütlich gemacht haben. Eingehüllt sitzen sie da in dicken Jacken, die Mütze über den Kopf gestülpt, ein Tuch um das gerötete Gesicht geschlungen. Sie essen, unterhalten sich.
Immer mal wieder hörten sie Testfeuer und Raketenabschüsse aus Nordkorea, erzählt eine. Um ihre braune Schirmmütze hat sie ein gelbes Tuch geschlagen. Ihren Namen möchte sie nicht verraten. Sie sei über 70 Jahre alt, sagt sie. Dann macht sie nach, wie es sich anhört, wenn wenige Kilometer entfernt die Volksarmee der Demokratischen Volksrepublik Korea Manöver probt. „Bum!“ Dann imitiert sie das Pfeifen einer sich langsam in den Himmel schraubenden Rakete.
Eine ihrer Begleiterinnen fällt ihr ins Wort. „Wir wollen nicht darüber reden“, erklärt sie. Die Frauen haben Angst. „Kim Jong Un ist schlimmer als sein Vater, Kim Jong Il. Wir haben Angst. Wir wissen ja nicht, wann er eine Rakete abschießt.“ Wenn sie könnten, würden auch sie weggehen. So wie ihre Kinder. Sie hätten kein Geld, um die Insel zu verlassen, sagen sie. „Wir sind doch nur alte Frauen.“
Zentrales Warnsystem
Alt ist das Stichwort, das Baengnyeong am besten beschreibt. Viele Gebäude auf der Insel haben die besten Tage hinter sich. Nur die militärischen Anlagen sehen eher herausgeputzt aus. Auch die Straße auf der strategisch so wichtigen Nordseite der Insel ist die einzige, die nicht mit Schlaglöchern übersät ist. Der Mittelstreifen ist strahlend gelb, der Teer noch glänzend schwarz. Alle paar Minuten fahren ein Militärlaster vorbei oder ein Armeejeep.
In den kleinen Siedlungen entlang dieser Straße ist außer Soldaten und ab und an einem alten Menschen fast niemand zu sehen. Dabei leben noch rund 5.000 Menschen auf der Insel.
Kim Jin Guk ist Chef einer Art Inselbürgerwehr. Er ist verantwortlich für Evakuierungspläne, das Warnsystem, das die gesamte Insel versorgt, und für die 99 Bunker, die alle paar hundert Meter das landschaftliche Bild prägen. 63 Bunker haben die Inselbewohner von 1973 bis 2010 auf der Insel errichtet; 26 weitere sind in den letzten drei Jahren hinzugekommen.
Kim Jin Guks tägliche Arbeit besteht darin, die Notfallpläne nach einem eventuellen Beschuss und vor einer möglichen Evakuierung auf dem neuesten Stand zu halten. Stolz erklärt er das zentrale Warnsystem, das vom Gebäude der Bürgerwehr aus aktiviert werden kann. „Für den Fall, dass Baengnyeong beschossen wird – wie damals Yeonpyeong“, sagt Kim. Nur ein Knopfdruck sei nötig, und jeder Einwohner wisse Bescheid, dass es Zeit für den Bunker sei.
Fähre nimmt Umweg
Nur wenige Meter liegen in der Regel zwischen den Bunkern. Auch direkt neben dem Gebäude der Bürgerwehr ragt ein gelber Bunkereingang aus dem Parkplatz. Seit sich die Situation auf der koreanischen Halbinsel zuspitzt, sind die von Kim verwalteten Bunker alle geöffnet. Theoretisch kann man sie einfach betreten. Jederzeit. Einfach die Verriegelung drehen, und schon schwingen die Bunkertüren auf.
Im Eingangsbereich des Bunkers türmen sich auf der linken Seite Kartonberge. Rechts steht ein Regal mit Kunstlederschlappen. Braun und grün, alle mit dem Namen des Bunkers versehen. Kim zieht seine Schuhe aus, schlüpft in ein paar Schlappen und schlurft die knapp 40 Stufen zum Bunkerhauptraum hinunter.
500 Personen bietet der Raum im Ernstfall Schutz. Eine Ecke des Raums sieht aus wie ein Konferenzraum. Ein paar Stühle an kleinen Tischen, die U-förmig angeordnet sind, ein Telefon und einige Feuerlöscher sind das Einzige, was den tristen gelben Raum etwas bunter wirken lässt. Kim ist sich sicher, dass sie auf der Insel auf alle Eventualitäten vorbereitet sind.
Hotels bleiben leer
Doch der Zwist mit dem nördlichen Nachbarn ist keineswegs die einzige Bedrohung, der die Insel momentan ausgesetzt ist. Wegen der andauernden Spannungen und Drohungen aus Nordkorea kommen immer weniger Touristen. Viele der Hotels und Motels auf der Insel stehen leer. Doch es sind die Touristen, von denen die Insel stets gelebt hat. Bang Jae Yu, Mitarbeiter der Fährgesellschaft, die die Insel täglich mehrere Male anfährt, sagt, die Fahrgastzahlen seien in den letzten Wochen um rund 30 Prozent zurückgegangen. „Dass heute alle Plätze ausgebucht sind, liegt daran, dass wir die vergangenen drei Tage nicht fahren konnten wegen der stürmischen See.“
Vom Fährhafen in Incheon auf die Insel dauert es rund viereinhalb Stunden. Die Fähre „Democracy 5“ fährt entlang der Northern Limit Line, der umstrittenen Seegrenze zwischen den beiden Teilen Koreas. „Könnten wir auf auf dem direkten Weg nach Baengnyeong fahren, wäre die Fahrtzeit 60 Minuten kürzer“, erklärt Bang. Rund ein Viertel der Passagiere sind junge südkoreanische Soldaten auf der Rückfahrt in die Kasernen der Inseln im Gelben Meer.
Viele von ihnen werden an der Endstation des Fährterminals in Baengnyeong aussteigen. Die Soldaten – wie viele es genau sind, ist den Behörden der Insel nicht zu entlocken – sind es, die die Wirtschaft Baengnyeongs am Leben halten. Im kleinen 24-Stunden-Supermarkt auf der Hauptstraße sind sie die besten Kunden. Wo in der Hauptstadt im Zeitungsständer politische Magazine, Tages- und Wochenzeitungen liegen, befinden sich auf Baengnyeong lediglich die Männermagazine Maxim und Spank im Regal. Sorgfältig eingeschweißt, um sie vor zu interessierten Blicken zu schützen.
Karaoke und Schummerlicht für die Soldaten
Die am besten laufenden Geschäfte des kleinen Hauptorts sind Karaokebars und sogenannte Business Clubs. Nach 20 Uhr sind es fast nur noch die Neonreklamen vor den Türen der Rotlichtetablissements, die die Straße erhellen. Reden möchte im Ort kaum jemand über die schwierige Situation.
Nur Fischer Lee hat keine Scheu zu reden. „An diesen Tage denke ich immer mal wieder darüber nach wegzugehen. Die da drüben machen einem das Leben so schwer.“ Er deutet in Richtung Norden. Hundert Meter weit kann man den Blick schweifen lassen. Dann verliert man sich im Nebel. Irgendwo hinter dem weißen Vorhang verbirgt sich das Feindesland.
„Für die Leute hier ist das Leben schwer“, sagt Lee mit Bedauern. „Aber wenn jeder die Insel verlässt, was wird dann aus meiner Heimat?“
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