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Türkischer Jurist über NSU-Prozess„Keine Rücksicht für die Opfer“

Der Verfassungsrechtler Osman Can findet den Richter souverän und korrekt. Der Schmerz der Opferangehörigen stehe dahinter zurück.

Der Schmerz der Opfer ist hier nachrangig. Bild: dpa
Marlene Halser
Interview von Marlene Halser

taz: Herr Can, als Teilnehmer der türkischen Delegation haben Sie den Auftakt des NSU-Prozesses in München verfolgt. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

Osman Can: Ich bin Jurist. Mich faszinieren in erster Linie die juristischen Zusammenhänge. Da ist am ersten Prozesstag noch nicht viel passiert. Vielleicht so viel: Ich habe den Eindruck, dass der Vorsitzende Richter seine Sache sehr souverän macht.

Nach dem Prozessauftakt haben Sie die Angehörigen der Opfer beim Empfang des Botschafters im türkischen Konsulat in München getroffen. Worüber haben Sie sich unterhalten?

Die Angehörigen waren schockiert, dass der Vorsitzende Richter den Prozess gleich zu Beginn noch einmal vertagt hat. Wir haben versucht, ihnen zu vermitteln, dass sie Geduld haben müssen. Bei einem Strafprozess müssen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit eingehalten werden. Selbstverständlich gilt die Unschuldsvermutung. Alles verläuft nach Regeln. Aber diese Regeln nehmen keine Rücksicht auf den Schmerz der Opfer.

Welche Bedeutung hat der NSU-Prozess in der Türkei?

In der Türkei gibt es derzeit eine ganze Reihe wichtiger Themen: Die Syrienkrise, die Diskussion um die Verfassungsänderung. Deshalb ist der Prozess nur eins von mehreren Themen – aber er wird verfolgt. Vor allem im Fernsehen wurde vom Prozessauftakt viel berichtet. Von den Printmedien hätte ich mir eine ausführlichere Berichterstattung gewünscht.

Die AKP verdankt ihren Wahlsieg 2007 auch den türkischen Staatsbürgern in Deutschland. Rund 60 Prozent der türkischen WählerInnen in Deutschland haben für die AKP gestimmt. Ist der NSU-Prozess für Ihre Partei deshalb so wichtig?

Natürlich interessiert es uns, wenn unsere Bürger ermordet werden. Aber das ist nicht das Wichtigste. Bei den Taten des NSU handelt es sich um Morde, die aus rassistischen Motiven verübt wurden. Hier sind die Demokratie und die Grundwerte der Menschheit bedroht. Daher werden wir den Prozess, aber auch die politischen Entscheidungen zu diesem Thema sehr genau unter die Lupe nehmen.

Im Vorfeld des Prozesses war von türkischer Seite zu hören, der deutsche Staat habe den NSU unterstützt. Deutsche Kommentatoren kontern, solche Vermutungen basierten auf der Erfahrung mit dem türkischen Staatsapparat, der selbst in kriminelle Machenschaften verwickelt war.

Wir können uns gegenseitig Schuld zuweisen, aber das ist wenig sinnvoll. Auch in der Türkei lief nicht immer alles rund. Dagegen haben wir schon viel gekämpft und tun es noch, etwa mit dem geplanten Verfassungsgebungsprozess. Auch gibt es Parallelen zwischen dem deutschen und dem türkischen Staat, was auf das preußisch-bürokratische Erbe zurückzuführen ist. Es ist unbestritten, dass zweifelhafte Dinge ans Licht gekommen sind: die Verwicklung des Verfassungsschutzes, das systematische Versagen der Polizei. Da kann der Eindruck entstehen, die Taten seien von staatlicher Seite gedeckt worden. Deshalb ist es in der Türkei wie auch in Deutschland wichtig, dass die Politik dafür sorgt, dass kein Staat im Staat entsteht.

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13 Kommentare

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  • A
    Annette

    So weit ich weiß, haben die türkischen Ermittler der SoKo Bosporus auch bis zuletzt nur in Richtung Mafia, Drogenhandel, PKK und so weiter ermittelt. Und in den türkischen Medien soll damals nur in Zusammenhang mit Mafia über die Morde berichtet worden sein.

  • G
    Gerd-F

    Mit den Wertungen welche die wahrlich "linke Socke" Andreas Hauß zur NSU trifft trete ich, so scheint es hier in Fettnäpfchen.

    Warum wohl? Weil die TAZ sie Sachlage etwas anders bewertet? Aber ist das Grund Gegenmeinungen auszuschließen?

  • 1
    1Stejn

    @Cengiz

    "[...] sonst würden sie nicht hier in einem sichern Land leben wollen."

     

    Die NSU-Morde haben gezeigt, dass dieses Land für Menschen mit Migrationshintergrund eben kein sicheres Land mehr ist.

    Und dass die Türkei andere Probleme hat, wird auch in dem Interview erwähnt.

  • C
    Cengiz

    Haha, die Türkei hat ganz andere Probleme, nämlich eine "Syrienkrise". Warum schreibt die taz ncht, wie es ist, nämlich dass Türkei und Syrien sich im Kriegszustand befinden?

    Davon aber abgesehen: Die meisten Türk/innen, die in Deutschland leben, haben gar keine Lust, sich mit Problemen dieser Art herumzuschlagen, sonst würden sie nicht hier in einem sichern Land leben wollen. Sie sorgen sich eher um den Job, um den Schulunterricht ihrer Kinder und so weiter, eben um das, was Deutsche auch tun. Die Diskussion um die sog. NSU ist völlig übertrieben.

  • L
    lowandorder

    Herr Osman Can - ein besonnener kluger Mann.

    Gut zu wissen.

  • D
    drui

    Herr Can kommentiert wirklich recht besonnen und ausgewogen, im Unterschied zu einigen Lesern hier, die lieber von "Durchnittstürken" im Sinne einer Beleidigung faseln oder meinen, jeder faschistische Mord wäre mit der Aufrechnung eines Totschlages eines türkischstämmigen Deutschen an einen anderen Menschen gesühnt. Gut, dass der Richter so langsam in die Spur findet und eben keinen Schauprozess a la Stammheim führt, auch wenn damit rechte Terroristen in den Genuss fairer Gerichtsbarkeit kommen, während dies linken Terroristen seit den 70ern weniger stark gestattet wurde.

  • S
    Soiset

    @ 1Stejn:

     

    "Ihre Einschätzung gegenüber den Türken ist vorurteilsbehaftet und falsch.":

     

    Genau:

     

    Dazu Türken-Experte Erdogan:

     

    "Die türkische Gemeinschaft und der türkische Mensch, wohin sie auch immer gehen mögen, bringen nur Liebe, Freundschaft, Ruhe und Geborgenheit mit sich.

    Hass und Feindschaft können niemals unsere Sache sein. Wir haben mit Streit und Auseinandersetzung nichts zu schaffen.":

     

    http://www.welt.de/welt_print/article1671967/Der-tuerkische-Mensch-bringt-nur-Liebe-und-Freundschaft.html

  • G
    Georg

    Hat Herr Can sich eigentlich auch zum Jonny K. Prozeß geäußert?

  • A
    @Anke

    "Mit Recht ist das gesunde Volksempfinden die Eingangs- nicht die Berufungsinstanz" (R. Spemann)

  • 1
    1Stejn

    @anke

    Es wird an keiner Stelle erwähnt, dass die Angehörigen auf Rache aus sind. Diese Einschätzung ist lediglich Ihrer latent faschistoiden Grundeinstellung geschuldet, die besagt, dass Ausländer immer gleich nach Rache lechzen.

    Die Angehörigen haben lediglich moniert, dass nach all den Jahren schon wieder Zeit geschunden wird.

    Dass juristisches Taktieren vom Ottonormalbürger eher als unverschämte Frechheit, denn als Rechtsstaatliches Prozedere empfunden wird, ist auch beim Durchschnittsdeutschen zu beobachten.

    Und die Rechtsstaatlichen Prinzipien sind frei von jeglichen Gefühlseinflüssen und somit mit größtmöglicher Progressivität objektiv. Dies bedeutet also, dass die Gefühle der Angehörigen sehr wohl nicht beachtet werden und auch nicht beachtet werden müssen und sollen. Ob ein Richter diese beachtet, ist eine andere Sache. Das Recht tut es nicht.

    Sie äußern sich so, als würden die Zschäpe und ihre Kumpanen weggesperrt werden müssen, um vor der Rache der Türken geschüzt zu werden!?!?

    Es mag auf Ihrem Heimatplaneten vielleicht auch ein Volk geben, dass zufällig auch "Türken" genannt wird, und das sie jetzt mit dem auf dem Planeten erde ansässigen Volk der Türken verwechseln.

    Ihre Einschätzung gegenüber den Türken ist vorurteilsbehaftet und falsch.

  • S
    Soli

    In der Tat - ein besonnener Kommentar, es wäre zu wünschen mehr von DIESER Sorte zu lesen.

  • A
    anke

    Seltsam! Ich meine die Aussage dieses Juristen, die "Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit" würden "keine Rücksicht auf den Schmerz der Opfer [nehmen]".

     

    Müsste der Mann denn nicht besser als jeder Durchschnittstürke wissen, dass es gerade die Schmerzen der Opfer sind, die "den Rechtsstaat" zwingen, so zu handeln, wie er handelt? Nicht nur persönliches Karrierestreben, Machthunger und Besserwisserei sind der Grund für die Existenz jener Regeln, denen Gerichte bestenfalls akribisch folgen, sondern vor allem auch das Leid der Opfer bzw. ihrer Angehörigen. So weit ich weiß, soll die Übertragung der Rechtsprechung auf möglichst unbeteiligte Dritte und die umfassende sachliche Beweiserhebung den Geschädigten nämlich unter anderem helfen, nicht selber schuldig zu werden in ihrer Wut.

     

    Im schmerzbedingten Affekt hat schon Mancher Dinge getan, die er nachher für den Rest seines Lebens bedauert hat. Mangels einschlägiger Erfahrungen muss man ja schließlich nicht unbedingt wissen, was es für die eigene weitere Existenz bedeutet, einen anderen Menschen "brutalstmöglich" bestraft zu haben. Aber Rache ist nicht gleich Recht. Schon gar nicht, wenn sie an einem Sündenbock vollzogen werden muss, weil der eigentliche Schmerzverursacher nicht mehr greifbar ist. Rache kann nicht nur den Rächer belasten, sie kann auch für neue Gewalttaten sorgen. Für noch mehr Leid also, als ohnehin geschehen ist. Und die Vermehrung von Leid kann nicht das Ziel von Leuten sein, die dafür bezahlt werden, dass sie das künftig weniger gewalttätige Zusammenleben von 80.000.000 Leuten sichern helfen.

     

    Recht schafft Zukunft. Rache nicht. Wer nicht überholte Bräuche wiederaufleben lassen will, ob nun familienbezogen oder durch soziale Gruppen ausgeübt, der kommt wohl nicht umhin Geduld zu haben und zu vertrauen. Auch dann nicht, wenn das im konkreten Fall akut genau so schwer weil schmerzhafter ist, wie das Ertragen einer durch nichts mehr zu korrigierenden Vergangenheit.

  • A
    angemessen

    Herr Can äußert sich klug und mit Bedacht.

    Sehr angenehm bei der ganzen Hysterie.