piwik no script img

Niedriglöhne und TarifverträgeAufwärts dank Mindestlohndebatte

Immer mehr tarifliche Stundenlöhne erreichen die Schwelle von 8,50 Euro. Die Aussicht auf den allgemeinen Mindestlohn belebt die Tarifpartnerschaft.

Gebäude- und Glasreinigung ist im unteren Lohnniveau angesiedelt. Bild: dpa

BERLIN taz | Immer weniger Tarifverträge sehen Löhne von weniger als 8,50 Euro pro Stunde vor. Das ist das Ergebnis einer Auswertung, die das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung am Donnerstag vorgestellt hat.

Demnach wurden Ende 2013 noch in 10 Prozent aller untersuchten 4.750 tariflichen Vergütungsgruppen 8,50 Euro oder weniger gezahlt. Im März 2010 waren das noch 16 Prozent.

Besonders häufig kommen Tariflöhne unter 8,50 Euro – der von der großen Koalition angestrebten allgemeinen Lohnuntergrenze – in der Landwirtschaft, der Floristik, im Erwerbsgartenbau, im Hotel- und Gaststätten- und im Bewachungsgewerbe sowie im Friseurhandwerk vor. Spektakulär niedrige Löhne von beispielsweise 4,35 Euro für Floristen in Sachsen-Anhalt gehen dabei oft auf Tarifverträge zurück, deren Geltungsfristen bereits seit Jahren abgelaufen sind, die aber weiterhin gelten, solange kein Folgetarifvertrag abgeschlossen wird.

Bereits die Aussicht auf den allgemeinen Mindestlohn „hat die Verhandlungsbereitschaft der Arbeitgeber enorm beflügelt“, sagte Reinhard Bispinck, Leiter des WSI, über die jüngsten Entwicklungen. Beispiel Friseurhandwerk: Bereits im März 2013 hatten sich Gewerkschaften und Arbeitgeber auf einen Tarifvertrag mit zum Teil deutlichen Lohnsprüngen vor allem für ostdeutsche Friseure geeinigt. Die Löhne, die nun bei 6,50 Euro (Ost) und 7,50 Euro (West) liegen, werden stufenweise ansteigen und im August 2015 8,50 Euro erreichen. Auch in der Leiharbeit oder im Fleischhandwerk haben sich die Tarifpartner unter dem Eindruck gesetzlicher Lohnvorgaben, die ab 2015 greifen sollen, vor Kurzem auf Lohnerhöhungen oder zum ersten Mal überhaupt auf einen Tarifvertrag geeinigt.

Insgesamt bekommen in Deutschland rund 5,3 Millionen Beschäftigte einen Stundenlohn von unter 8,50 Euro. Die Niedriglohnschwelle, die das WSI und andere Institute berechnen, liegt aber bei 9,15 Euro – zwei Dritteln des mittleren Stundenlohns.

Ob der Mindestlohn tatsächlich greift, hängt laut Bispinck auch davon ab, ob der Zoll künftig mehr Personal für Kontrollen hat und Beschäftigte nicht den beschwerlichen Weg von Einzelklagen gehen müssen. Bispinck verwies in diesem Zusammenhang auf Großbritannien, wo mit der Einführung des Mindestlohns auch eine Telefonhotline eingerichtet wurde, bei der Beschäftigte Verstöße melden können.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • RS
    Reinhold Schramm

    Bei 8,50 Euro-Std. brutto liegt auch nach 50 Vollzeitarbeitsjahren (ohne Arbeitslosigkeit) die eigenständige Armuts-Altersrente auf dem geringen Niveau der Sozialhilfe!

     

    Bei einem Brutto-Stundenlohn von 15 Euro, nach 35 Jahren, bei ca. 700 Euro.

     

    Aufwachen, brave DGB-"Sozialpartner" der Quandtschen Erbschafts-Milliardäre (ohne deren Arbeitsleistung und Mehrwertschöpfung)! (?)

  • Das soll wohl wie eine frohe Botschaft klingen. Tatsächlich zeigt sich dadurch nur, wie schwer das Lohndrücken die deutsche Tariflandschaft getroffen hat.

     

    Denn von 8,50 EUR kann man keine Familie ernähren. Im Alter ist man zu Sozialhilfe verdammt. Und das soll der Regeltarif sein?

     

    Zum Mitrechnen: 8,50 EUR mal 160 Stunden (noch ohne Krankheit und Urlaub zu betrachten) sind gerade mal 1360,- EUR brutto. 8,50 EUR mal 120 Stunden (Krankheit und Urlaub abgezogen) sind 1020.00 EUR. Viel Spass, damit zwei Kinder durch zu bringen! Ohne Sozialhilfe wird das wohl mit dem Gehalt nicht möglich sein – das reicht ja nicht einmal um die Krankenversicherung, Miete, Essen und Kleider für die Familie zu bezahlen.

     

    Offensichtlich haben alle in Deutschland vergessen, was den Kapitalismus einst interessant für die Bürger gemacht hat: dass nämlich, wer Vollzeit arbeiten geht, nicht nur Geld zur Versorgung seiner Familie hat, sondern sich auch einen bescheidenen Wohlstand erarbeiten kann, und zusätzlich eine Altersrente, die ein Auskommen ermöglicht.

     

    Dieses kapitalistische Heisversprechen wurde aufgekündigt. Daran ändern auch solche Jubelnachrichten nichts.