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Die WahrheitNudité, Fraternité

Freikörperkultur wird zum politischen Instrument: Der Textilfreie Sonntag soll die soziale Schere der Gesellschaft schließen.

Sogar im nacktesten Land der Welt muss noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden. Bild: reuters

So nackt wie Deutschland ist keine andere Nation. Das ergab die Umfrage eines Online-Reisebüros, bei der über 11.000 Befragte aus 24 Ländern ihre Hosen herunter ließen. Demnach gab fast jeder Dritte der interviewten Deutschen an, sich schon einmal ohne Bikini oder Badehose am Strand gesonnt zu haben: Weltmeister! Was die Wandervögel 1896 begannen und Hippies in den 1960ern fortsetzten, lässt sich auch heute für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft nutzen.

Wenn das Parlament zu seiner ersten Sitzung nach der Sommerpause zusammentritt, wird es sich daher mit einer Petition beschäftigen müssen, die nur auf den ersten Blick wenig mit Politik zu tun hat. So waren die erforderlichen hunderttausend Unterstützer schon nach zwei Tagen beisammen. Die Online-Petition „Textilfreier Sonntag“ ließ sogar wichtige Anliegen wie „Gegen die Absetzung von Verbotene Liebe“ weit hinter sich. Worum geht es? Laut Petitionstext um nichts weniger als eine „Restrukturierung der Gesellschaft“, schlicht dadurch, dass man sich ohne Klamotten begegnen soll.

Petent ist nicht irgendwer, Prof. Dr. Dr. Aunfeld von der Uni Bielefeld gilt als origineller Denker und versierter Gesellschaftstheoretiker. Wir haben ihn an einem Sonntagnachmittag getroffen und eine einfache Frage gestellt: Warum?

„Erinnern Sie sich an 1973? Wir hatten Ölkrise. Ein Lösungsansatz war der autofreie Sonntag. Rückblickend muss man sagen: Ein voller Erfolg. Das Öl sprudelt noch immer. Heute haben wir Gesellschaftskrise. Es muss etwas passieren, damit von gegenseitiger Anerkennung über soziale und ethnische Grenzen Hinweg hinweg nicht nur gesprochen wird. Sie muss gelebt werden. Am besten funktioniert das, wenn wir uns alle gleich machen. Auf der Bildungs- oder Verdienstebene ist das nicht von jetzt auf gleich zu schaffen, aber ausziehen kann sich jeder in ein paar Sekunden.“

Wie zum Beweis entledigt sich Aunfeld seiner Krawatte, öffnet die drei obersten Hemdknöpfe und fährt fort: „Gerade erst haben wir den Fußball-Patriotismus erlebt. Ein ganzes Land schwenkte Fahnen, verschleierte Rückspiegel mit Nationalfarben und erhob sich über all jene, die beim Fußball diesmal nicht gewonnen haben. Alles wurde so einfach. Man hat gewusst: Der da hat ein blaues Trikot an, den mag ich nicht. Der da drüben aber trägt ein weißes Trikot, das ist mein Freund, mit dem trinke ich jetzt einen Kümmerling. Meine Vision ist eine Gesellschaft, die nicht auf Trikots achtet. Durch die Textilfreiheit kann jeder Teil des Erfolgs sein.“

„In meinen Vorlesungen habe ich mich ausgezogen“

Aunfeld öffnet die restlichen Knöpfe seines Hemdes, streift es sich mühsam ab und hantiert an seinem Hosengürtel: „Man rückt sich durch die Nacktheit selbst mehr in die Mitte, man macht sich vergleichbarer. Wenn man Fußball schaut, weiß man: Ich kann nicht so gut mit einem Ball spielen wie die da. Wenn man auf ein Pop-Konzert geht, weiß man: Der da oben kann besser singen als ich oder hat im Social-Media-Unterricht besser aufgepasst. Jede Form von Anhängerschaft ist damit verbunden, sich selbst zu erniedrigen. Und nun stellen Sie sich mal vor, Justin Bieber steht nackt auf der Bühne und singt, oder was immer er da tut. Da hat der Fan immerhin die Möglichkeit, zu sagen: Na gut, meinetwegen kann er singen, aber ich hab mehr Muskeln und mehr untenrum. Und schon ist der sogenannte Star weniger entrückt, mehr der Mitte zugewandt. Die Grenzen der Mitte müssen die Grenzen des Absoluten sein! … Äh, ich zieh dann jetzt mal meine Hose aus, wenn Sie nichts dagegen haben.“

Professor Aunfeld sitzt nun nur noch im Schlüpfer vor uns. Die Fotografin fragt, ob dies der passende Augenblick für ein Bild sei. Aunfeld wirft ihr als Antwort ein verträumtes Duckface zu, sie drückt auf den Auslöser.

„In meinen Vorlesungen habe ich mich ausgezogen und die Studierenden aufgefordert, sich mir anzuschließen“, fährt Aunfeld fort. „Rund zwei Drittel kamen meiner Aufforderung nach, bloß die Diplomstudenten verließen den Hörsaal. Wir hatten ordentlich Spaß, und zwar von gleich zu gleich. Meine herausgehobene Stellung ging im Kollektiv unter.“

Aunfeld ist derzeit von seinem Lehrstuhl suspendiert. Mehrere Studierende fühlten sich von ihm sexuell belästigt und erstatteten Strafanzeige. Da das Verfahren läuft, will er sich nicht öffentlich dazu äußern. Zum Abschluss des Interviews lässt er die letzte Hülle fallen. Als er von der Security höflich aus dem Straßencafé herauskomplimentiert wird, reckt der textilfreie Gelehrte kämpferisch die Faust. „Das ist schon das vierte Mal in dieser Woche“, kommentiert einer der Sicherheitsmitarbeiter. Offenbar hat Aunfeld sogar im nacktesten Land der Welt noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten.

Die Petition „Textilfreier Sonntag“ läuft bis zum 4. September. Zum Wintersemester will Aktivist Aunfeld wieder ein Seminar anbieten: „Online-Petitionen – Spielwiese der Demokratie oder Tummelplatz schamloser Demagogen?“

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1 Kommentar

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  • Im Prinzip, ja: Nacktheit = Gleichheit + Freiheit,

     

    aber manche wollen immer mehr gleicher oder freierer als andere sein (sic).

    Sie lassen sich percieren,

    tätowieren,

    amputieren,

    pustebusenisieren,

    vollbotoxieren,

    tiefhochabliftenziehen,

    abschwarten,

    glattbügeln,

    renaseifizieren,

    neubezahnen,

    ultravioletttisieren,

    frisieren,

    schamtoupieren,

    aalglattrasieren…

    damit sie, auch nackt, Kitsch am Körper, äh, „Knust am Körper“

    --auch wenn nicht gelungen--

    sichtbar wird.

     

    Was im Kopf fehlt, fällt eben woanders auf.