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Debatte Bündnis 90/Die GrünenGrüne Überzeugungen

Kommentar von Stephan Klecha

Der nun anstehende Generationswechsel ist zwar eine entscheidende Zäsur für die Partei. Doch ihre Grundwerte bleiben.

Auf dem Parteitag im November: die Fraktionsvorsitzenden Anton Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt. Bild: dpa

P arteien verfallen hin und wieder in eine Sinnkrise, zumeist beim Abtritt großer Führungsfiguren. Die Grünen freilich haben den Abgang von Joschka Fischer 2005 alles in allem gut verkraftet, dafür stellt der nun laufende Generationswechsel wohl eine der schwersten Zäsuren in der Geschichte der Grünen dar. Was an Kommentaren über die einstige Partei der politischen Avantgarde zu lesen ist, muss für die Funktionsträger niederschmetternd wirken, wenn ihnen aus Anlass ihres letzten Bundesparteitags „Beißhemmungen“ (Zeit Online) attestiert werden oder konstatiert wird, dass den Grünen schlicht die Themen ausgingen (Die Welt).

Die Grünen selbst suchen zwar nach Orientierungen, doch eine wirkliche Sinnkrise kann man nicht ausmachen. Vielmehr scheinen sich die Parteimitglieder eher implizit darüber im Klaren zu sein, auf Basis welcher Grundüberzeugung sie eigentlich Politik betreiben. Ausgerechnet die Aufarbeitung der Pädosexualitätsdebatte legt nun Teile des Markenkerns jenseits der tradierten Themenfelder Ökologie und Frieden offen.

In unserem Abschlussbericht haben wir einige Faktoren herausgearbeitet, die notwendige, jedoch keineswegs hinreichende Voraussetzungen waren, damit sich in den 1980er Jahren Forderungen nach einer pädosexuellenfreundlichen Reform des Sexualstrafrechts in den Programmen niederschlagen konnten.

Neben der Bejahung der sexuellen Befreiung waren das erstens die ausschweifende Empathie für Minderheiten, zweitens die Überzeugung, bestimmten opportunen wissenschaftlichen Positionen in wahrer Gläubigkeit zu folgen, und schließlich drittens die Zweifel an der Berechtigung staatlicher Eingriffe in die individuellen Freiheiten. Wenn man diese Punkte nun dieser Tage als Resümee vorträgt, begegnen einem zwei Reaktionen.

Stephan Klecha

arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Er ist Mitherausgeber des Buches „Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte“, die beim Verlag Vandenhoeck und Ruprecht erschienen ist.

Die älteren Funktionsträger wollen sich erkennbar nicht in solche Schablonen pressen lassen und pochen mehr oder minder darauf, dass man diese Zeit selbst erlebt haben müsse, um sie zu verstehen. Demgegenüber finden sich in genau diesen Beschreibungen die jüngeren Parteimitglieder erstaunlich gut getroffen. Ihnen wird dadurch bewusst, dass diese Dinge letztlich einen Teil des zu wahrenden Vermächtnisses ihrer Vorgängergeneration umschreiben und dass sie in ihrer eigenen politischen Identität tief verwurzelt sind. Im Angesicht der Pädosexualitätsdebatte erschrecken sie aber auch wegen der damit verbundenen Ambivalenzen.

Stellt man bei der rückblickenden Bewertung eine generative Differenz fest, so scheint diese in der politischen Alltagsarbeit der Grünen keine große Rolle zu spielen. Vielmehr findet man genug Beispiele und Anknüpfungspunkte der heutigen grünen Politik in den genannten Überzeugungen.

Geliebte Empathie

Dort, wo die Grünen politische Verantwortung tragen, kümmern sie sich jedenfalls meist rührend um all die sozialen Randgruppen und Minderheiten, die sich anderweitig nicht vertreten fühlen. „Kümmern“ meint dabei vor allem eine verbale Empathie kombiniert mit dem Verlangen, dass sich professionell jemand um einzelne Gruppen bemüht. Ob Frauen-, Umwelt-, Senioren-, Behinderten-, Schwulen-, Lesben-, Fahrrad- oder Fußgängerbeauftragte, sie alle leisten aus Sicht grüner Politik daher immens wichtige Arbeit, die es zu fördern und auszubauen gilt.

Bei den kommunalen Töpfen, welche zusätzlich kleinste Mikrogruppen unterstützen, sind es oft die Grünen, die dort Haushaltskürzungen verhindern. Was an institutionalisierter Arbeit im Kultur-, Jugend- und Sozialbereich der 1980er/1990er Jahre entstanden ist, wird damit verlässlich umsorgt.

Nicht nur die Sympathie für die Lage von „Betroffenen“, wie es im Jargon der 1980er Jahre zuweilen immer noch heißt, ist geradezu typisch für die Identität der Grünen, auch ihre Orientierung auf wissenschaftliche Expertise, gerne solche abseits des Mainstreams, ist ungebrochen. Das war für die Entstehungszeit der Partei auch essenziell, denn sie lehnten die Atomenergie gegen eine herrschende Meinung in den Natur- und Ingenieurswissenschaften ab. Insbesondere in den Kernfeldern Umwelt- und Verkehrspolitik verbeißen sich die Grünen auch heutzutage in den Widerstreit der Gutachter, um ihre Position auf der Grundlage opportuner wissenschaftlicher Befunde zu stützen.

Was dem nicht entspricht, wird in methodischer und analytischer Hinsicht grundlegend angezweifelt. Sehr anschaulich war das bei den Auftritten von Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer im Schlichtungsverfahren zu Stuttgart 21 zu beobachten. Den Grünen liegt bei solchen Themen oftmals weniger an einem Interessenausgleich, sondern eher am Rechthaben, das zu einem Rechtkriegen werden soll.

Einsatz für Freiheitsrechte

Auch die dritte Überzeugung, das Eintreten für die Freiheitsrechte, hat bei den Grünen unvermindert ihren Platz. Die einstige Partei der RAF-Anwälte ist zwar weit davon entfernt, die Abschaffung aller Gefängnisse zu fordern, wiewohl bei der Grünen Jugend vor wenigen Jahren ein solcher Diskurs mal kurzzeitig geführt wurde. Allerdings sehen sich die Grünen immer noch als entschiedene Verteidiger bürgerlicher Freiheitsrechte, gerade hier hoffen sie auf die Erbschaft der verblichenen Liberalen von der FDP.

Das schließt bislang aber auch eine gewisse Scheu ein, in Koalitionsverhandlungen den Posten eines Innenministers für die eigene Partei zu reklamieren. Jedenfalls hat es noch nie einen grünen Innenminister gegeben, der dadurch in die Verlegenheit käme, sich für eine Verschärfung von Sicherheitsgesetzen einzusetzen.

Viel lieber bekleiden die Grünen dann das Amt des Justizministers, weil sie darüber einen Kontrapunkt zum Koalitionspartner setzen können. Bei den Grünen gibt es also durchaus einen Bestand von Überzeugungen, die nicht nur aus Sicht der jüngeren Parteimitglieder geradezu konstitutiv wirken, sondern die offenkundig die Politik der Partei nachhaltig prägen. Sie scheinen gegenwärtig nicht nur den Generationswechsel zu überdauern, sondern die Partei wird sich ihrer anscheinend gerade erst so richtig bewusst.

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12 Kommentare

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  • 4G
    4845 (Profil gelöscht)

    "Der Vorwurf der Kriegstreiberei ist eine Frechheit."

     

    Nein, eine Tatsache.

  • Alles in allem zweifle ich an, daß die "Grundüberzeugungen" der Grünen sich nicht gewandelt hätten. Eklatant ist dies beim Pazifismus, den Herr Klecha nichteinmal erwähnt. Aber auch bei anderen Themen und Methoden ist diese Partei meilenweit von ihrer besten Zeit im Bundestag entfernt. Als radikale, ökopazifistische Partei waren die Grünen ein ständiger Stachel im Fleisch der Etablierten - ihnen ist es zu verdanken, daß alle Parteien Umweltexperten einsetzten und das theam überhaupt auf die Tagesordnung kam. In den Achtzigern und Neunzigern hat diese Partei biennefleißig parlamentarische Anträge gestellt und zu unzähligen Themen wissenschaftliche Expertisen eingeholt und für die gesamte Bewegung, die damals hinter ihr stand, wasserfeste Argumente geliefert. Davon ist heute - ich stimme @KARLM hier zu - nur noch wenig zu merken. Meine Vermutung ist, daß Mitregieren sich nicht auszahlt. Man muß sich soweit verbiegen, bis man den eigenen Prämissen - für die man gewählt wurde! - untreu wird. Viel mehr bewirkt eine konsequente, kompetente und lautstarke Opposition mit Rückhalt in den sozialen Bewegungen! Schade, daß die Grünen dies vergessen zu haben scheinen. Statt zusammen zu arbeiten, zofft man sich lieber mit der Linken.

    • @Albrecht Pohlmann:

      So ist das nun mal in der Demokratie. Es ist ein Bohren dicker Bretter. Der Zoff mit der "DIE LINKE" rührt ist wohl eher aus deren Generve her zu erklären. Da sind noch viele, die mit dem den wahre linken Kathechismus in der Hand weitere linke Parteien (SPD, GRÜNE) nicht ertragen können. Und wen man denkt, die Ziele seien erreicht wenn Parteien einen Umweltexperten haben, dann hat man etwas nicht verstanden. Die haben RWE, Hoechst und Co auch.

      • @Arcy Shtoink:

        Es geht doch garnicht um "eigene Umweltexperten", sondern um die Erafhrung das sich in der -leider entfernteren Vergangenheit- mit sachlicher Kritik, zudem naturwissenschaftlich fundiert, in einem Bereich viel hat erreichen lassen. Ganz ohne in Ökomystizismus, wie heute, zu verfallen.

        Natürlich waren die missstände auch so gross das alle Parteien nachziehen mussten. Nur sind aktuell doch nicht die Probleme in ein paar Vertretern von "die Linke" zu sehen?

        Angesichts breiter werdender sozialer Gräben und einer Fragmentierung der Gesellschaft sollten sich doch auch weitere Felder für konstruktive Kritik öffnen? "Pazifisten" die alternativlos Bomben werfen lassen braucht kein Mensch! Eine ehrliche Begründung des "Warum" ist aber heute schon zu viel Verlangt!

  • 4G
    4845 (Profil gelöscht)

    Grundwerte? Klar, Grün ist die Farbe der Camouflage, daher passt die Partei ganz gut zu den Kriegstreibereien, die diese ja schon seit Jahren betreibt...

    • @4845 (Profil gelöscht):

      Der Vorwurf der Kriegstreiberei ist eine Frechheit. Die Grünen sind weiterhin eine pazifistische Partei. Nur keine radiaklpazifistische Partei mehr, die um der reinen Lehre wegen ihre Hände in den Schoß legt.

  • "Neben der Bejahung der sexuellen Befreiung waren das erstens die ausschweifende Empathie für Minderheiten, zweitens die Überzeugung, bestimmten opportunen wissenschaftlichen Positionen in wahrer Gläubigkeit zu folgen, und schließlich drittens die Zweifel an der Berechtigung staatlicher Eingriffe in die individuellen Freiheiten."

     

    " erstens die ausschweifende Empathie für Minderheiten"

    Die Minderheit der Millionäre freut sich bestimmt immer noch über die Steuererleichterungen, die ihnen rotgrün geschenkt hat.

     

    "zweitens die Überzeugung, bestimmten opportunen wissenschaftlichen Positionen in wahrer Gläubigkeit zu folgen"

    Ja, leider noch immer kein Massensterben in Fukushima, aber Atomkraft ist bestimmt viel ungesünder als die Kohlekraftwerke, die man mit Frau Kraft in NRW wieder eröffnet.

     

    " schließlich drittens die Zweifel an der Berechtigung staatlicher Eingriffe in die individuellen Freiheiten."

    Tempolimits auf Autobahnen wie in den USA oder überall sonst in Europa. Nicht mit den Grünen. Wie sollen Herr Kretschmann und Herr Palmer denn sonst die baden-württembergischen Porsche und anderen Luxuskarossen verkaufen? Und bloß keine sozialen Sicherungssysteme vom Staat. Nachher verlassen sich darauf noch Menschen und meinen, sie müssten nach 30 Jahren Einzahlen in die Arbeitslosen- und Rentenversicherung da auch noch was anderes als HartzIV-Beträge rausbekommen.

    • @Age Krüger:

      So siehts leider aus!

       

      Der wissenschaftlich konstruktive Teil grüner Umweltpolitik ist ja auch ausgestorben....

  • Absichtsvoll ausgespart in diesem Kommentar: die vierte "Grundüberzeugung", der Pazifismus. Diese Grundüberzeugung ist vielleicht noch in Teilen der grünen Basis vorhanden, an der Spitze fehlt sie. Und es wäre nicht so einfach gewesen, dies mit der glatten "Wandel-und-Kontinuität"-Rhetorik zu erklären, die diesen Kommentar prägt.

  • Erst mußte ich lachen als ich "ihre Grundwerte bleiben" gelesen habe. Doch klar, es stimmt: Neoliberalismus, Kriegstreiberei, USA-Liebdienerei und Bürgerbewegungen als Trittbrett benutzen.

    • @Harald Grünefeld:

      Ich habe bei "ihre Grundwerte bleiben" nur einen tiefen Seufzer ausgestoßen.

       

      Katrin Eckhardt-Göring ist gar keine wirkliche Grüne, sondern eine Bündnisschmiedefrau, hat "Kunkeln" schnell gelernt.

       

      Generationenwechsel? Wieso? Richtungswechsel in vielen, wichtigen zivilgesellschaftlichen Bereichen trifft eher zu.

       

      Mit guter Sozialpoitik haben Grüne nichts zu tun und zeigen keinen Einsatz, keine Weiterbildung. Siehe Hartz IV und gravierende Altersdiskriminierung! Ausgestoßene ältere Fachkräfte, ohne akademischem Grad.

       

      Aber auf europäischer Ebene, mit Sven Giegold und Michael Cramer in Brüssel, da kommt eine Menge Kreativität und Innovation rüber. Keine Berührungsängste mit guter Sozialpolitik und wichtiger Gewerkschaftspolitik für das Leben und Arbeiten der Menschen! Einschließlich der großen, erschreckenden Jugendarbeitslosigkeit in den südlichen Ländern!

       

      Siehe auch die kaum diskutierte "Agenda 2020" für die EU-Staaten!