Syrische Flüchtlinge in der Türkei: Schule als Therapie
Viele syrische Flüchtlinge sind minderjährig. In einer Schule in der Türkei können sie sich für ein paar Stunden wie normale Kinder verhalten.
KAHRAMANMARAS taz | Von außen wirkt das Haus unauffällig. Nur ein kleines Schild mit arabischen Buchstaben weist darauf hin, dass hier etwas Besonderes stattfindet. Ein großes Metalltor öffnet sich, dahinter drängen und drängeln mehr als hundert Kinder in einem winzigen Innenhof. Große Pause in einer provisorischen Flüchtlingsschule in Kahramanmaras im Südosten der Türkei. Sobald die Kinder beginnen, über ihre Familie zu sprechen, hört das Lärmen auf.
„Mein Bruder ist tot“, berichtet Aya, 12 Jahre alt, in stockendem Englisch. „Unser Haus in Syrien wurde zerbombt.“ Ob ihr Vater noch lebt, weiß sie nicht. Zusammen mit ihrer Mutter und drei weiteren Brüdern ist Aya vor einem Jahr aus Aleppo geflohen. Bei Shahima sind Onkel und Tante gestorben, es gibt kein Kind hier auf dem Pausenhof, das nicht einen schmerzlichen Verlust zu beklagen hat.
Von 1,7 Millionen syrischen Flüchtlingen, die nach offiziellen Angaben zurzeit in der Türkei leben (vermutlich sind es über 2 Millionen), sind rund die Hälfte Kinder. In den Flüchtlingslagern bietet der türkische Staat Unterricht an. Doch der kommt nur einem kleinen Teil der Kinder zugute, da lediglich etwa 250.000 Syrer in den Lagern leben. Die anderen kommen bei Verwandten unter, suchen sich auf eigene Faust eine Wohnung oder leben auf der Straße. Für Syrer, die von der türkischen Regierung offiziell als Gäste bezeichnet werden, gibt es, anders als für Flüchtlinge aus anderen Ländern, keine Restriktionen. Sie dürfen sich überall im Land niederlassen.
Die meisten leben aber nach wie vor nahe der syrischen Grenze. In den Städten Urfa, Gaziantep und Kahramanmaras macht die Zahl der Flüchtlinge deswegen längst mehr als 10 Prozent der Bevölkerung aus. Für Kahramanmaras heißt das: Auf 600.000 Einwohner kommen 80.000 Flüchtlinge. Nur 18.000 davon wohnen in dem Flüchtlingslager am Rande der Stadt. Für fast 25.000 syrische Kinder gibt es damit theoretisch zwar die Möglichkeit, eine türkische Schule zu besuchen, doch scheitert das in der Regel an mangelnden Sprachkenntnissen.
Aus eigenen Mitteln
In Kahramanmaras haben deshalb im Frühjahr 2013 syrische Flüchtlinge den Verein „Fackeln der Freiheit“ gegründet, der als Erstes ein Schulangebot für die Flüchtlingskinder auf die Beine stellte, aber auch Nähkurse für Frauen organisiert. Hauptinitiatorin der Schule ist Sanabl Mirandi, die selbst aus der syrischen Mittelmeerstadt Latakia stammt. Sie hat zwei Kinder, denen nach der Flucht die Schule fehlte. Im Gegensatz zu vielen anderen ist Sanabl Mirandi nicht ganz mittellos in die Türkei gekommen. Ihr Mann ist Unternehmer und konnte einen Teil seines Betriebes ins Ausland retten. Deshalb war es zunächst eigenes Geld, womit Sanabl Mirandi Räume für eine Schule anmietete und unter den Flüchtlingen nach Lehrern suchte.
„Die Schule“, sagt Sanabl Mirandi, „ist wie Therapie für die Kinder. Ein paar Stunden können sie sich wie normale Kinder verhalten und bekommen die wichtigsten Grundlagen vermittelt.“
Mirandi mietete 2013 ein leer stehendes Wohnhaus an und richtete provisorische Klassenzimmer ein. „Ganz schnell waren es 200 Kinder jeden Tag“, erzählt sie von ihrer „Schule der Freiheit“. Jetzt sind es über 900 Kinder, die jeden Tag in die Schule kommen wollen. Dicht gedrängt sitzen sie mit Mantel und Schal auf ihren Schulbänken, denn im Februar ist es auch im südlichen Kahramanmaras kalt und es gibt keine Heizung. „Es sind ja nur drei Monate im Jahr, ab März wird hier schon wieder Frühling“, sagt Lehrer Ayman Ahmad.
Syrischer Lehrstoff
Grundsätzlich könnten die Kinder auch eine normale türkische Schule besuchen. Doch dafür müssten sie erst einmal Türkisch lernen – und das möchten viele gar nicht. „Wir wollen ja so schnell wie möglich zurück“, erklärt Sanabl Mirandi. „Deswegen versuchen wir so viel wie möglich von dem Unterricht aufrechtzuerhalten, den die Kinder auch in Syrien gehabt hätten.“
Vor allem möchten die Initiatoren verhindern, dass die Kinder aus Mangel an Alternativen bei den Islamisten landen. Denn im Unterschied zu den säkularen Flüchtlingen, die kaum Hilfe von außen bekommen, können die Islamisten auf großzügige Unterstützung aus den Golfstaaten und Saudi-Arabien zurückgreifen. „Wahrscheinlich 60 bis 70 Prozent aller privat betriebenen Schulen für syrische Flüchtlingskinder in der Türkei werden von den Religiösen betrieben“, sagt Sanabl Mirandi. „Mädchen und Jungen werden dort getrennt, die Mädchen müssen sich verschleiern. Da werden die Weichen für die Zukunft Syriens gestellt.“
„Die Schule der Freiheit“ soll frei sein von Religion und Politik. Das ist allerdings nichts so einfach. „Die Leute hier wollen uns nicht“, meint Sanabl Mirandi. Ihr Auto mit syrischem Kennzeichen sei mehrfach demoliert worden. „Schlimmer aber ist, dass unsere Kinder auf dem Schulweg angegriffen werden. Wir haben jetzt eine Begleitung durch die Eltern organisiert.“
Randale im Sommer
Nurettin Karakoyun, der Chef der staatlichen Flüchtlingshilfe Afad in Kahramanmaras, bestreitet, dass es Probleme gibt. Doch es genügen wenige Gespräche in der Stadt, um bestätigt zu bekommen, dass viele Einwohner die Flüchtlinge für ein großes Ärgernis halten. Enes Bascik, ein freundlicher Mann, der einen Gewürzladen auf dem Basar betreibt, bringt es auf den Punkt: „Sie sind zu viele, sie drücken die Löhne und sorgen gleichzeitig dafür, dass sich die Mieten in der Stadt in einem Jahr mehr als verdoppelt haben.“
Tatsächlich sind die Flüchtlinge in der Stadt sehr präsent. Da viele keine Arbeit haben, verbringen sie den Tag in den Parks und öffentlichen Anlagen der Stadt. „Die haben eine andere Kultur, sie sind laut und weigern sich, unsere Sprache zu lernen“, sagt Enes Bascik. Im letzten Sommer wurde deshalb der Park im Stadtzentrum zum Zankapfel.
Angeblich hatten syrische Flüchtlingsfamilien ihn völlig in Beschlag genommen, und auch immer mehr kleine Restaurants rund um den Park wurden von Syrern übernommen. „Als ob denen die Stadt gehörte“, ärgert sich der Gewürzhändler noch Monate später. Obwohl Kahramanmaras eine durch und durch konservative Stadt ist, in der die regierende AKP von Präsident Erdogan Wahlergebnisse von 80 Prozent einfährt, griffen rund 500 überwiegend junge Männer an einem Abend die syrischen Läden an. Es kam zu massiven Ausschreitungen, viele Läden gingen zu Bruch.
Eine De-Facto-Einwanderung
Heute sieht man nichts mehr davon. Aber die Stimmung ist nicht gut. Der Hauptgrund dafür ist eine Art Realitätsverweigerung auf beiden Seiten. Sowohl die türkische Regierung als auch die Flüchtlinge weigern sich zu akzeptieren, dass ihre Flucht längst zu einer De-facto-Einwanderung geworden ist.
Mohamed Tayba hatte in Aleppo eine gut gehende Rechtsanwaltskanzlei. „Wir haben große Firmen beraten, ich habe gut verdient“, erzählt er. Jetzt arbeitet er als Kellner bei Mado, einer türkischen Restaurantkette in Kahramanmaras. Tayba empfindet seine Anstellung im Restaurant als Demütigung. Trotz der Kämpfe will er in zwei Monaten zurück nach Aleppo. „Unser Haus steht noch“, sagt er mit leuchtenden Augen, „hier kann man doch nicht leben.“
Auf die Frage, warum er sich nicht in seinem eigentlichen Beruf engagiert, winkt er ab: „Dazu bräuchte ich eine Arbeitserlaubnis, aber die gibt es nicht.“ Dass sich das bald ändert, daran glaubt er nicht. Mohamed Tayba ist jetzt drei Jahre in der Türkei und völlig zermürbt. Um seine Kinder macht er sich große Sorgen, die zurzeit noch die Schule im Flüchtlingslager besuchen. „Das geht nicht mehr lange gut, weil wir nicht dort wohnen. Sie sollen eine türkische Schule besuchen. Wie soll das gehen?“
Die Regierung ist ohne Konzept
Der türkische Staat hat für die Kinder außerhalb der Lager kein Konzept. Damit sie reguläre Schulen besuchen können, müssten diese besser ausgestattet werden und auch Sprachkurse anbieten. Auf der anderen Seite wollen viele syrische Eltern ihre Kinder auch gar nicht in eine türkische Schule schicken, weil sie davon träumen, so schnell wie möglich nach Syrien zurückkehren zu können. Oder sie hoffen, nach Europa oder Amerika weiterzuziehen. Aydas vier Kinder besuchen alle die „Schule der Freiheit“ von Sanabl Mirandi. Obwohl sie ethnische Turkmenen sind und deshalb alle etwas Türkisch sprechen, will Ayda nicht, dass ihre Kinder in eine türkische Schule gehen. „Da sind meine Kinder Fremde“, sagt sie, „sie sollen lieber richtig Arabisch lernen. Mein Mann sagt, wir kehren ja bald zurück.“
Aydas Mann ist viel unterwegs, um sich als Tagelöhner zu verdingen. Von der Stadtverwaltung bekommen sie Kohlen zum Heizen und Essenspakete. Sind sie der türkischen Regierung dankbar, dass sie hier aufgenommen wurden? Ayda schüttelt den Kopf. „Wären die Grenzen dicht gewesen, hätten unsere Männer kämpfen müssen und wir hätten vielleicht gewonnen“, sagt sie. „Dann müssten wir nicht hier sein.“
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