Altersweisheiten von Martin Walser: „Feinde machen das Sterben leichter“
Martin Walser wird 88. Älter werden, sagt er, ist leichter als alt sein. Der Schriftsteller über ein langes Leben in kurzen Sätzen.
Erste Erinnerungen
Die gibt es nicht. Ich müsste aus dem Schwall der Erinnerungen einige auswählen und zu ersten Erinnerungen machen. Das wäre Fälschung.
Kindheit
Davon lebt man lebenslänglich.
Beichten
Etwas, was man getan hat, so zu sagen, dass es klingt, als bereue man es. Die Elementarschule der Bewusstseinsbildung.
Gasthaus und Kohlenhandlung
Im Gasthaus das Dorfleben als Theater. Die Kohlenhandlung der Stolz des 12- bis 17-Jährigen auf seine Arbeitsleistung.
Mutter-Sohn-Beziehung
Die einzige Beziehung, die kein Warum braucht.
Soldat in der Wehrmacht
Mehr Glück als Verstand.
„Instrumentalisierung des Holocaust“
Das wurde immer falsch zitiert, weil nie jüdische Überlebende gemeint waren, sondern immer heutige Intellektuelle und Politiker, wie Walter Jens, der sagte, die deutsche Teilung sei eine Strafe für Auschwitz, und Joschka Fischer, der sagte, wir müssen in Serbien bombardieren, das seien wir Auschwitz schuldig.
Jiddisch
Eine aus dem Mittelhochdeutsch stammende Mundart, die durch Schriftsteller wie Abramovitsch zur großen Literatursprache geworden ist.
Der Mensch: Martin Walser gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller der Nachkriegszeit. Er lebt in Überlingen am Bodensee, wurde in der Nähe auch geboren; seine Eltern betrieben einen Gasthof und eine Kohlenhandlung. Ende des Zweiten Weltkriegs war er Soldat, 1946 studierte er Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie. Später arbeitete er als Reporter und promovierte über Franz Kafka. Walser ist Vater von vier Töchtern und von Jakob Augstein. Am Dienstag wird er 88.
Das Werk: Walsers erster Roman „Ehen in Philippsburg“ erschien 1957. Es folgten - neben Essays und Theaterstücken - viele weitere, etwa „Ein fliehendes Pferd“, „Einspringender Brunnen“ oder „Tod eines Kritikers“. Walsers Figuren sind Antihelden, häufiges Motiv seines Werks ist das Scheitern - und die deutsche Vergangenheit, 1964 war er Zuhörer beim Auschwitz-Prozess. Walser ist vielfach ausgezeichnet und Ehrendoktor an mehreren Universitäten.
Schreiben
Mir fällt ein, was mir fehlt. Dann aber: etwas so schön sagen, wie es nicht ist.
Literarische Vorbilder
Kafka, Proust.
Überschätzte Autoren
Gibt es nicht.
Realität
ist ein Wort, um das Wirkliche manipulierbar zu machen.
Fiktion
ist die Veränderung des Erfahrenen bis zur Erträglichkeit.
Verlorenes Tagebuch
Es kommt mir wertvoller vor, als es gewesen sein kann.
Literaturkritiker
sind Schriftsteller, die, um über sich selbst schreiben zu können, über andere Schriftsteller schreiben müssen. Das kann nicht immer angenehm sein.
Vorwurf: „Der VW unter den deutschen Schriftstellern“
Wer das als Vorwurf gemeint hat, versteht nichts von Autos.
Marcel Reich-Ranicki
war ein miserabler Autofahrer, aber ein unendlich unterhaltsamer Schriftsteller.
Heimat
Bloch sagte, Heimat sei das, worin noch keiner sei. Ich sage, Heimat ist das, worin keiner mehr ist.
Nation
ist ein Wort, mit dem etwas bezeichnet werden sollte, was offenbar wünschenswert war. Als Wort diente es jedem nach seinem Bedürfnis. Man wollte stolz sein können auf den Verband, zu dem man gehörte. Die Folgen sind bekannt. Umso unverständlicher, dass manche mit dem Wort noch so umgehen, als hätten nicht zwei Weltkriege deswegen stattgefunden.
„Der Islam gehört zu Deutschland“
Von mir aus.
Europa
war für uns Schriftsteller immer schon unser Vaterland. Ibsen, Strindberg, Flaubert und so weiter, das waren die Götter meiner Jugend von Anfang an. Nur die Politik tut sich schwer, das zu verwalten, was schon lange existiert.
Schwimmen
ist die liebste und älteste Bewegungsart.
Rauchen
Ich bin ein Raucher, der nicht raucht.
Trinken
Ich trinke, um es auszuhalten.
Lotto
Lotto ist von allen Spielarten übrig geblieben: zweimal pro Woche wird mir bewiesen, dass ich nicht gewinnen kann.
Die Ehe
macht Erzähler aus uns allen.
Vater sein
ist schwerer, als es zu werden.
Frauen
sind offenbar viel stärker.
Männer
Das ist ein Plural, der sinnvoller ist als der Singular.
Schönheit
Dass wir etwas schön finden können, ist unsere höchste Fähigkeit.
Liebe
ist ein anderes Wort für Poesie.
Erotik
ist ein Fremdwort.
Sex
ist eine Sportart, von der ich immer wieder höre.
Seitensprung
ist deutlich genug ein Wort für eine Nebensache.
Geld
ist umso wichtiger, je weniger man davon hat.
Missgunst
Missgunst ist ein missglücktes Wort. Ein Unwort. Ich meide es.
Macht
zu haben verdirbt jeden.
Feminismus
musste entstehen gegen männlichen Machtwahn.
Kapitalismus
Wie jeder -ismus: Übertreibung einer verständlichen Aktivität.
Soziale Medien
Kenne ich nicht.
Edward Snowden
Ich höre, dass wir abgehört werden.
Angela Merkel
ist für deutsche Verhältnisse ein Glücksfall. Und als Frau demonstriert sie, dass Schönheit einer Wesensart entspringt.
Wladimir Putin
Tut mir leid, er imponiert mir.
Utopien
Ohne Utopie ist das Dasein unerträglich.
Humor
Wer Humor hat, hat Reserven, die von privilegierter Herkunft stammen.
Träume
Wichtigstes Selbstgespräch.
Ängste
kenne ich nur im Singular, und ich hüte mich, darüber Auskunft zu geben.
Recht haben müssen
Das wollte ich mir allmählich abgewöhnen. Noch nicht geschafft.
Feinde
Die müssen wir lieben. Sie machen uns das Sterben leichter.
Glück
ist ein Wort wie Gott oder Unsterblichkeit. Ein Wort für etwas, was es nicht gibt, aber wir brauchen es!
Luxus
Es ist leichter, daran teilzuhaben, als sich dazu zu bekennen.
Geheimnisse
Geheimnisse, die uns verschlossen sind, zeigen uns, dass wir Ansprüche haben, die wir nicht haben dürfen.
Lügen
Meistens Leistungen zugunsten dessen, dem sie serviert werden.
Hoffnungen
Der Sauerstoff einer von Smog regierten Welt.
Älterwerden
ist leichter als alt sein.
Glauben
Wir glauben mehr, als wir wissen.
Grabsteinspruch
Von – bis.
Gott
Das ist der Triumph der Sprache über die Erfahrung.
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