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Die WahrheitAn einem müßigen Morgen

Kolumne
von Arno Frank

Prokrastination für Fortgeschrittene mit der Eichhorn-Methode.

S obald meine beiden Kerkerkügelchen in den Kindergarten und die Grundschule gerollt sind, bieten sich mir an einem müßigen Morgen in der Wohnung genau zwei Möglichkeiten.

Erstens kann ich die Zeitung unaufgeschlagen sowie das Radio abgeschaltet lassen und die Eichhörnchen im Innenhof beobachten. Spalier stehen dort sieben Fichten, in denen ein ganzer Pulk von Sciurus vulgaris sein niedliches Wesen treibt. Haben sie in den Wipfeln zu tun, kann ich in der Küche ihrem äffchenhaften Geturne aus einer geradezu zoologischen Entfernung von nur drei Metern beiwohnen.

Hin und wieder nimmt mich ein Eichhorn ins Visier seiner glänzenden schwarzen Knopfaugen, während der buschige Schwanz, nur zart vom Wind zerzaust, wie ein Baldachin über seinem Kopf mit den Pinselohren steht. Sie sind immer da, sommers wie winters. Noch vor Sonnenaufgang scharrende Geräusche außen an der Hauswand, da beklettern die ersten Kundschafter ihr Revier, senkrecht den Putz hoch und runter.

Sehr früh am Morgen sieht man sie über die Schindeln und das Wellblech benachbarter Häuser flitzen, als wären sie auf dringender Mission, was sie wahrscheinlich auch sind. Bei Sonnenaufgang verharrt das kräftigste Exemplar manchmal auf dem kargen Grat der Brandmauer gegenüber. Die Silhouette eines wachsamen Indianers vor dem blutorangen Glanzlack des Himmels, aus dem sich jetzt die diamantenen Frontscheinwerfer der ersten Asienflieger zur Landung in Frankfurt abfädeln wie von einer Kette.

Später werden die grellgrünen Sittiche durch diesen Himmel sicheln wie Jagdflieger, danach eine ruhig rudernde Formation von Störchen, zuletzt immer zwei Gänsesäger mit ihrem hektischen Flügelschlag. Beim Umtopfen auf dem Balkon finden wir Walnüsse, Haselnüsse und Eicheln, sorgsam in der weichen Blumenerde verscharrt von hamsternden Eichhörner. Oft sehe ich sie tödliche Abgründe überspringen, von schaukelnden Ästen aus, zögernd, den richtigen Winkel erahnend und dann – jetzt! – mit ausgestreckten Krallen hinüber zur Mauer und von dort ohne Innehalten weiter.

So sichtbar die Tiere, so unsichtbar sind ihre Kobel. Es gibt Nester zum Schlafen und zum Rasten, alle haben sie mindestens einen Notausgang für die schnelle Flucht, die bei uns aber nicht nötig ist. Die einzige Katze im Haus ist eine adipöse Schande ihrer Gattung. Breitbäuchig vertrödelt sie ihre Tage auf den Sonnenflecken im Hof, allein der Gedanke an etwas so Abwegiges wie eine Jagd lässt sie schwerer atmen.

Ganz anders die Eichhörnchen, deren jede sehnige Bewegung an Zeiten erinnert, da sie noch von Wipfel zu Wipfel und von Generation zu Generation den borealen Nadelwald wie einen zusammenhängenden Dschungel bevölkerten, von Wladiwostok bis Santiago de Compostela, ohne jemals den Boden zu berühren. Ihr Epos müsste mal geschrieben werden, als Mischung aus „Herr der Ringe“ und „Watership Down“ …

Zweitens könnte ich die Zeitung aufschlagen und das Radio einschalten. Aber warum sollte ich das tun?

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2 Kommentare

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  • Übrigens: Private Gründe gibt es sicher ziemlich viele für die Prokrastination. (Ein dummes Wort, wenn man mich fragt. Es soll wohl sagen, dass man a) ein Infizierter ist und b) trotzdem noch wertvoll - wenn man sich behandeln lässt. Wer darauf reinfällt, kann sie nicht mehr alle haben.) Der Hauptgrund ist womöglich der: Der Mensch neigt artbedingt (recht großes, kompliziertes Hirn) dazu, Handlungen um so später aufzunehmen und um so kürzer durchzuhalten, je weniger emotionalen oder materiellen Gewinn er kognitiv damit verbinden kann. Das ist vernünftig, finde ich. Es wie ne Krankheit zu behandeln, ist dumm weil kontraproduktiv.

     

    Wer nicht zum Affen umerzogen wurde und es trainiert hat, schaffen es nun mal nur mit großer Überwindung, Sachen zu tun, die er als unnütz, sinnlo, oder gar schädlich empfindet. Die Zeitungs- und die Radiomacher haben deswegen, sage ich jetzt mal, verdammtes Glück, dass es noch ein paar Einzelne wie den Arno Frank gibt. Man hätte sonst als Mensch mit ohne Affen-Abschluss wirklich kaum noch gute Gründe, die Zeitung anzudrehen oder das Radio aufzuschlagen. Das meiste Zeug, das einen daraus anspringt, ist nur Füllstoff fürs Gehirn ganz ohne Nährwert, so was wie ein Burger-Brötchen - wenn nicht gar Doping oder pures Gift.

  • Gute Frage, Herr Frank. Wieso sollten Sie das Radio einschalten und die Zeitung aufschlagen, statt den Eichhörnern beim Faxenmachen zuzusehen?

     

    Vielleicht, weil die taz, selbst wenn sie wollte, unmöglich jeden Tag eine Eichhorn-Betrachtung wie diese drucken könnte? Sie hat ja schließlich Kosten, die taz. Die muss (und will) sie decken. Und leider haben immer die das aller meiste Geld, die von der Poesie der Sciurus vulgaris nichts verstehen (wollen) und lieber viele dumme Sachen machen als sich mal ganz entspannt zurückzulehnen.

     

    Vielleicht auch, weil ein Eichorn-"Epos", geschrieben als geniale "Mischung aus 'Herr der Ringe' und 'Watership Down', sich aus den gleichen ärgerlichen Gründen (viel Geld in vielen falschen Händen) womöglich nicht so gut verkauft? Zumindest nicht so gut, dass Sie und Ihre "Kerkerkugeln" den Rest des Lebens mit der staunenden Betrachtung mehr oder weniger interessanter Alltäglichkeiten verbringen können ohne dabei zu verhungern oder zu erfrieren?

     

    Aber vielleicht auch, weil manchmal in einer Zeitung und im Radio ganz winzig-kleine Kostbarkeiten wie diese zu entdecken sind? Nur selten zwar, doch dafür auch mit ganz viel Lust und Freude – und Neugier auf den nächsten schönen Fund. Womöglich gar zu solchen Themen, die man (aus Gründen übergroßer Faulheit und Bequemlichkeit) nicht direkt vor der Nase hat.