: Bruni Weidner kann nicht anders
VON CHRISTIANE MARTIN
„Nein, nein, nein! Du sollst deinen Bruder nicht hauen“, ruft Bruni Weidner. Resolut tritt sie zwischen die beiden sich streitenden Kleinkinder, schiebt Davids Hand heftig zur Seite und hebt den einjährigen Daniel auf ihren Arm. Dabei stöhnt die 55-Jährige und murmelt etwas wie „Du wirst auch langsam schwer“. Der Kleine aber schmiegt sich an den weichen, runden Körper der Frau, als wäre sie seine Mutter.
Bruni Weidner ist eine Mutter, durch und durch. Die Stimme der kleinen, kräftigen Frau klingt liebevoll, ihre Bewegungen wirken sicher und gezielt. Die eigenen Kinder sind aus dem Haus, jetzt kümmert sie sich um David und Daniel – und um deren Mutter: Rita Vehma (Name von der Redaktion geändert). Die kommt aus Indien und lebt seit drei Jahren mit dem Vater ihrer Kinder, ebenfalls ein Inder, in Köln. Sie spricht kein Deutsch, besitzt fast nichts und hat Hilfe bitter nötig. Seit einigen Monaten schickt der Migrationsdienst der Diakonie Köln deshalb Bruni Weidner als so genannte Integrationspatin einmal wöchentlich zu Rita Vehma und ihren Kindern.
So auch an diesem Vormittag. Draußen schneidet eisige Kälte in die Haut. Bruni Weidner steigt mit einer Behändigkeit, die man ihr auf den ersten Blick nicht zutraut, aus dem Auto und steuert flott auf das graue Haus zu, in dem die indische Familie lebt. Ein Blick an der Fassade entlang, und schon zeigt sich die typische steile Falte zwischen ihren Augenbrauen. „Wieso haben die denn die Rollladen unten?“ fragt sie Kopf schüttelnd.
Sie klingelt, betritt die Wohnung. Ein kurzes Hallo und dann wird erstmal Licht rein gelassen. Sie zieht die Rollladen hoch, entledigt sich ihres roten Anoraks und dann werden die Kleinen begrüßt. David ist zwei Jahre alt und äußerst lebhaft. Er hängt sofort an Mutter Weidners Rockzipfel. Die stellt aber schnell klar: „Nicht so wild!“ und streicht dabei trotzdem zärtlich über seinen Kopf. Daniel, der Kleine, ist krank. „Kinderarzt“, sagt Rita Vehma und zeigt eine Packung Erkältungstropfen. „Ah, gut! Medizin ist gut“, antwortet die ehrenamtliche Helferin. Man lacht und versteht sich – fast sprachlos. „Manchmal sprechen wir auch ein bisschen Englisch. Aber ich hab ja auch nur mein Schulenglisch und sie spricht mit starkem Akzent. Aber eigentlich ist das kein Problem“, sagt die gebürtige Opladenerin. Meist könne sie ihrer Klientin weiterhelfen, oft in ganz praktischen Dingen des Alltags. Welches Waschmittel kauft man am besten? Ist Fruchtzucker schädlich für die Zähne der Kinder? Fragen, die man im Austausch mit Nachbarinnen, Freundinnen oder Bekannten klärt. Aber Rita Vehma ist in ihrer neuen Heimat einsam und fragt deshalb ihre Helferin.
Und die weiß Bescheid. Im Drogeriemarkt zeigt sie, welches Waschmittel „for all clothes“ ist und dazu auch noch preiswert. Den Fruchtriegel für die Kinder legt sie energisch ins Regal zurück und nimmt stattdessen eine Packung Vollkornkekse aus Dinkelmehl. Die Inderin nickt bestätigend. Okay, das weiß sie nun, dass die Kekse besser sind als Fruchtriegel. Ob sie für die Lektion dankbar ist, zeigt sich nicht auf ihrem Gesicht, aber dass sie das Zusammensein mit Bruni Weidner genießt, merkt man ihr an. Sie wird immer lebhafter, spricht, fragt, lächelt.
„Das genieße ich daran. Zu wissen, dass sie sich freut, wenn ich komme. Jedes Mal wieder“, erklärt die Patin. Wenn sie an dem Wochentag nach Hause käme, sei sie immer ganz schön platt. „Die Kleinen schaffen mich“, sagt sie lachend. Aber die Befriedigung, geholfen zu haben, sei Lohn genug. Bruni Weidner ist die geborene Helferin. Früher hat sie die Kinder von Bekannten betreut, den Freund ihre Mannes inklusive Freundin im eigenen Haus aufgenommen oder den Kumpel ihres Sohnes. „Aber es fiel mir schwer, auch mal Nein zu sagen“, sagt die kurzhaarige Frau.
Die hellen Augen hinter den Gläsern ihrer großen goldumrandeten Brille verengen sich. Nachdenklich starrt sie auf die Tischplatte und erinnert sich. Einen kurzen Moment schleicht Schwermut über ihr Gesicht. Es sei nicht so leicht gewesen, das zu lernen, sich abzugrenzen, sich nicht ausnutzen zu lassen, sagt sie leise. Doch dann hebt sie ruckartig den Kopf, streckt das Kinn nach vorn und sagt selbstbewusst: „Aber heute kann ich das. Ich weiß genau, wem ich wann helfen will.“ In der Zeitung hatte sie vom Diakonieprojekt gelesen und sofort war ihr klar: „Das ist was für mich!“ Seit sie ihren Job als Sekretärin vor sieben Jahren aufgegeben hat, hat sie zwar keine Langeweile. Auch ihre erwachsenen Kinder halten sie von Zeit zu Zeit auf Trab, ganz zu schweigen von den beiden Katzen und ihrem Hund. Aber Bruni Weidner kann einfach nicht an der Not vorbei sehen. „Man kann sich kaum vorstellen, wie Menschen hier bei uns leben müssen. Die haben noch weniger als Hartz IV.“ Das verschiebe Maßstäbe und erweitere den Horizont. Und Zeit zum Helfen bleibe allemal.
Zeit, die sie nun mit Rita Yehma teilt. Im Laufe diesen Jahres werden sie gemeinsam zum Kinderarzt gehen, auf den Spielplatz, zum Einkaufen. Und in den Kindergarten, um David anzumelden. „Ich hoffe, dass Frau Yehma dann mehr Kontakt zu anderen Menschen bekommt, dass sie richtig Deutsch lernt“, sagt Bruni Weidner. „Und dass sie mich dann nicht mehr braucht“, schiebt sie hinterher. Einen Moment lang klingt ihre Stimme unsicher. Doch dann fällt es ihr wieder ein. „Ich habe ja gelernt, mich abzugrenzen“, wiederholt sie. Sie wolle ja niemanden an sich binden, abhängig machen. „Einmal im Monat mit Frau Yehma Kaffee trinken, ein Gespräch auf Deutsch führen und natürlich sehen, wie groß die Kinder geworden sind. Das wäre schön“, sagt sie. „Und dann gibt es bestimmt eine andere Familie, die Hilfe braucht“, sagt Bruni Weidner, die nicht anders kann.
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