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„Aggression auf Filzlatschen“

ZEITGESCHICHTE Der DDR-Führung war der Sozialdemokrat suspekt, den Konservativen eine Art Vaterlandsverräter. Hausbesuch bei Egon Bahr, 92, dem „Architekten“ von Willy Brandts Ostpolitik der 1970er Jahre

Egon Bahr

■ Journalist: geb. 1922 in Treffurt (Thüringen). Journalist, bis 1960 Chefkommentator des Rias.

■ Politiker: Sozialdemokrat, Sprecher des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt in Berlin. 1969 Auswärtiges Amt in Bonn, 1970 Staatssekretär im Kanzleramt. 1972–76 Bundesminister. 1976–81 SPD-Bundesgeschäftsführer.

VON UWE SOUKUP

Mit historischen Wahrheiten ist das so eine Sache; man findet sie nicht auf der Straße. „Politische Geschichte ist ja“, schrieb Sebastian Haffner, „ähnlich wie Kriminalistik, immer mit der Sisyphus-Arbeit beschäftigt, Taten aufzuklären, deren Täter alles Interesse daran hatten, sie der Aufklärung zu entziehen.“

Selbst wenn nach Jahrzehnten Umrisse historischer Ereignisse erkennbar werden, ist nicht sicher, dass sich noch jemand dafür interessiert. Ostpolitik, Verhandlungen in Moskau, Brandts Rücktritt – ist das noch wichtig? Reicht es nicht zu wissen, dass Helmut Kohl der Kanzler der Einheit ist? Seine Rede in Dresden, das Strickjackentreffen mit Gorbatschow, die Einheitsfeier vor dem Reichstag – die Bilder sind echt, keine Zweifel möglich.

„Ba(h)rer Unsinn“

Keine? Besucht man den 92-jährigen Egon Bahr in seinem Büro im Willy-Brandt-Haus in Berlin, begrüßt er den Gast vom Schreibtisch aus – und rauchend. So wird man also alt und bleibt wach, Politik und Rauchen? „Ach, aufhören lohnt sich nicht mehr.“

Angesprochen auf die deutsche Einheit, die am Ende der CDU in den Schoß gefallen sei, schmunzelt er. „Dafür gilt das Wort von Kohl: Entscheidend ist, was hinten rauskommt. Und wenn die Einheit hinten rauskommt, ist das ja völlig in Ordnung, dass er geerntet hat, wo er die Saat verhindern wollte.“

Egon Bahr hat Geschichte gemacht. Er war der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Wie damals alles kam, die Verträge mit Moskau und Warschau, das Berlin-Abkommen: Bahr hat es oft erzählt. Aber, wie es scheint, kommt erst jetzt das, was er zu erzählen hat, beim Publikum an. Es ist dem alten Mann zu gönnen. Aber auch uns, den Jüngeren, den Lesern.

Es passt zu Bahr, aber auch zu seinem Leben, mit welcher List er es hinbekommen hat, doch noch gehört zu werden: „Erinnerungen an Willy Brandt“ steht unübersehbar auf dem Buch, vorangestellt ist Brandts Aufforderung an Egon Bahr: „Das musst du erzählen.“ Auftrag vom Chef also. Es geht Bahr aber noch um etwas anderes: Der Kanzler der Einheit ist Willy Brandt, die Partei der Einheit die SPD. Sind daran Zweifel möglich? Durchaus. Denn es war nur die halbe SPD, die hinter Bahrs 1963 in Tutzing formuliertem Konzept „Wandel durch Annäherung“ stand. Herbert Wehner kanzelte es als „ba(h)ren Unsinn“ ab.

Nicht von ungefähr hielt Bahr seine Rede in Tutzing nur wenige Wochen nach John F. Kennedys legendärem Berlin-Besuch. US-Präsident Kennedy hatte im Juni 1963 nicht nur eine sehr populäre Garantieerklärung für die geteilte Stadt abgegeben – „Ich bin ein Berliner!“ –, sondern eine in Bahrs Worten „geniale Rede“ an der Freien Universität gehalten. Kennedy sagte, dass es keine Alternative zur Kooperation mit der Sowjetunion gäbe. Gemeinsamer Nenner sei die Haltung, die Realitäten nur dann verändern zu können, wenn man sie erst einmal annehme.

Bahr fuhr 1970, sieben Jahre später und wenige Wochen nach Beginn der sozialliberalen Koalition, als Staatssekretär im Bundeskanzleramt und mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet („auf deren Umfang er freilich selbst den größten Einfluss hatte“, so Richard von Weizsäcker), nach Moskau und sondierte die Möglichkeiten eines Vertrages. Als Bahr zum sowjetischen Ministerpräsidenten Alexej Kossygin vorgelassen wurde, begrüßte der ihn so kalt, als sei Bahr persönlich für den Krieg Nazideutschlands gegen die Sowjetunion verantwortlich: „Ich höre.“ Es folgte der „schwierigste und unangenehmste Monolog meines Lebens“, erinnert sich Bahr, „ehe es zu einer Art Gespräch kam.“

Der DDR jedoch waren die Aktivitäten Brandts und Bahrs von Beginn an ein Dorn im Auge, insbesondere das Treffen mit Kossygin. Was Wehner „bahren Unsinn“ genannt hatte, Bahrs „Wandel durch Annäherung“-Rede, etikettierte DDR-Außenminister Otto Winzer als „Aggression auf Filzlatschen“. Zwar durfte die DDR in ihren Interessen nicht verletzt oder gekränkt werden, Verhandlungsergebnisse waren aber nur in Moskau zu erzielen. Als Brandt nach Erfurt fuhr, war Bahr immer noch in Moskau, wo er monatelang mit Andrej Gromyko und Valentin Falin verhandelte. Die Gespräche drohten an der Frage zu scheitern, dass Bahr zwar einen Vertrag über die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa anbot, jedoch zugleich forderte, dass die deutsche Frage offen bleiben müsse, also eine deutsche Einheit in Übereinstimmung mit den Alliierten möglich sein müsse.

Noch während Bahr in Moskau ungewöhnlich lange verhandelte, begannen die Kampagnen gegen die „Verzichtspolitik“ und den „Ausverkauf des Vaterlandes“. Einige SPD- und FDP-Abgeordnete liefen in den nächsten anderthalb Jahren zur Opposition über. Als es genug zu sein schienen, versuchte Rainer Barzel mittels eines konstruktiven Misstrauensvotums Brandt zu stürzen, was bekanntlich misslang. Aus den Neuwahlen 1972 gingen Brandt und die SPD stark wie nie hervor. Trotzdem trat Brandt nach anderthalb Jahren zurück. Was war geschehen?

Das schwierige Dreiecksverhältnis Bonn-Ostberlin-Moskau hatte auch Risse im Bonner Regierungslager zur Folge. Ein ganzes Jahr lang schwelte in Bonn die Affäre Guillaume. Der Stasi war es gelungen, mit Günter Guillaume einen Spion direkt in Brandts Stab zu platzieren. Doch Brandts Rücktritt war nicht Folge dieser Affäre, sondern Folge der Handhabung der Affäre.

Wehner und Honecker

Verfassungsschutzpräsident Nollau, eine „Erfindung“ Herbert Wehners und wie dieser aus Dresden stammend, Wehner selbst und der damalige Innenminister Genscher waren schon im Mai 1973 über den DDR-Spion im Kanzleramt, Günter Guillaume, informiert. Sie beließen ihn aber dort, um weitere Erkenntnisse zu gewinnen. Das alleine ist schon ein Skandal, der immerhin Nollaus Karriere beendete. Ende Mai 1973 besuchte Wehner in der Schorfheide den DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker für mehrere Tage, in Begleitung des FDP-Fraktionschefs Wolfgang Mischnick, auch ein Dresdener. Was wurde dort besprochen? Sprach man auch über Guillaume? Warum wurde der Spion nicht aus dem Kanzleramt entfernt, von dem Honecker, Genscher, Wehner und Nollau wussten?

„Eins ist doch völlig klar“, so Bahr gegenüber der taz, „es gab in Deutschland zwei Leute, die daran interessiert waren, dass es nicht zur Einheit kommt. Der eine hieß Wehner, der andere Honecker.“ Solange die beiden das in der Hand hielten, würde es gute vernünftige Beziehungen des Nebeneinander geben. Aber keine Einheit, so Bahr.

Und weiter: „Brandt und seine sowjetischen Partner wollten eine neue Ordnung in Europa. Breschnew hat festgestellt, dass er das erste Mal einen unmittelbaren Kontakt zu einem westlichen Staatsmann hatte, der hieß Brandt, ein Sozialdemokrat, der nicht zu jedem Frühstück einen halben Kommunisten verspeiste. Die Chemie zwischen den beiden stimmte. Die DDR hatten sie doch sowieso am Bändel, aber die große reiche Bundesrepublik zum Verbündeten zu kriegen war für die Sowjetunion sehr viel attraktiver. Alles kam zusammen. Die einen wollten die deutsche Einheit als Ziel, und die anderen wollten die Verewigung der Teilung als Ziel. Die Vorstellung, dass wir ohne die Brandt’sche Politik die Einheit vielleicht gar nicht gekriegt hätten oder eine Situation wie in Korea, ist doch abgründig, schrecklich. Aber dieser Unterschied zwischen Brandt und Wehner war nicht mehr wegzukriegen.“

Führte dieser Unterschied schließlich zum – gewollten – Sturz Brandts? Leonid Breschnew hatte Honecker am Telefon zusammengestaucht, als er von Brandts Rücktritt – und von Guillaume – erfuhr.

Was also ist hier die historische Wahrheit? Wo wurde dieser erzwungene Rücktritt geplant, wenn er geplant wurde? Ein unübersichtliches Gelände, so unübersichtlich, dass das Zeit-Magazin vor zwei Wochen in einem großen Interview mit Bahr danach fragte, ob Brandt von der „gefährlichen Nähe Wehners zu Moskau“ gewusst habe. Was Bahr überraschend bejaht, ohne auf die falsche Fragestellung hinzuweisen. Darauf angesprochen, sagt Bahr: „Stimmt. Das habe ich verbockt. Es hätte nicht ‚zu Moskau‘ heißen dürfen, sondern ,zu Honecker‘. Ich habe es entweder nicht gesagt oder anders gesagt, oder ich habe es überlesen.“

Wie wichtig Bahr die historische Wahrheit über den Sturz Brandts und die Rolle Wehners ist, zeigt ein Zitat aus Willy Brandts „Notizen zum Fall G.“, das Bahr nun in seinem Buch wiedergibt: „Willy Brandt schloss seine ,Notizen‘ mit der unvermittelten Hinzufügung: ,Das Treffen in der Schorfheide Ende Mai 1973: Wehner, Honecker, Mischnick.‘“ Dazu Bahrs Kommentar: „Brandt war auf der richtigen Fährte.“

Egon Bahr: „ ‚Das musst du erzählen‘. Erinnerungen an Willy Brandt“. Propyläen Verlag, Berlin 2013, 240 Seiten, 19,99 Euro

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