Deutschland und die blauen Briefe: KOMMENTAR VON RALPH BOLLMANN
Das waren noch Zeiten. In den seligen Jahrzehnten der alten Bundesrepublik lebten die Westdeutschen in der Überzeugung, auf allen Feldern die Besten zu sein. Die höchste Wirtschaftsleistung. Das dichteste soziale Netz. Die stabilste Währung. Die gründlichste Vergangenheitsbewältigung.
Seit der Wiedervereinigung ist dieses Selbstbild beschädigt. Nicht nur, dass Deutschland hinter den anderen Ländern Westeuropas wirtschaftlich zurückbleibt. Nein, das Land steht ob seiner Verfehlungen nun zum dritten Mal im Fadenkreuz einer internationalen Ermittlung. Erst waren es ausländerfeindliche Gewaltakte in Ostdeutschland, die Mitte der Neunzigerjahre einen UN-Sonderberichterstatter auf den Plan riefen. Dann verursachte die überbordende Staatsverschuldung den Unmut der EU-Kommission, die seither mit einem Defizitverfahren droht. Und nun sehen wiederum die Vereinten Nationen das Menschenrecht auf Bildung bedroht.
Hierzulande wird der plötzliche Rollentausch mit erstaunlichem Gleichmut aufgenommen. Allen kurzlebigen Aufgeregtheiten um Pisa-Studien oder blaue Briefe aus Brüssel zum Trotz finden es nicht wenige Deutsche offenbar sogar beruhigend, dass sie nicht mehr als Musterschüler Europas herhalten müssen. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich auch im Mittelmaß recht entspannt.
Doch nicht alle Probleme lassen sich einfach als Folgelasten der Wiedervereinigung abtun. Was bei rechten Schlägern im Osten oder dem hohen Schuldenstand noch angehen mochte, funktioniert im schulischen Sektor ganz und gar nicht mehr. Im Gegenteil: Die zehnjährige Polytechnische Oberschule der DDR war ein zukunftsweisendes Modell, anders als das dreigliedrige Gekrampfe in Westdeutschland.
Die Reise des UN-Ermittlers Muñoz erinnert daran, dass in der Bildungs- und Integrationsdebatte der selbstgefällige Hinweis nicht mehr reicht, hierzulande funktioniere doch die Integration sehr viel besser als in Frankreich. An den Schulen selbst wird Muñoz viele Verbündete finden – nur leider nicht unter den Bildungsministern in Bund und Ländern, die den Besuch zumindest nach außen wie einen ungebetenen Eindringling behandeln.
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