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Nicht Monster, sondern Mensch

Heute beginnt der Prozess gegen einen 16-Jährigen, der ein siebenjähriges Kind ermordet haben soll. Der Fall hatte eine heftige Debatte über den Umgang mit jugendlichen Gewalttätern ausgelöst

von PLUTONIA PLARRE

Der Prozess findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Trotzdem wird die Öffentlichkeit allgegenwärtig sein, wenn der 16-jährige Ken M.* heute vor die Jugendstrafkammer des Landgerichts tritt. Der Jugendliche ist wegen Mordes angeklagt. Er soll am 27. August 2005 in Zehlendorf ein siebenjähriges Kind getötet haben. Der Fall hatte in der Stadt eine heftige Debatte über den Umgang mit jugendlichen Gewalttätern, Intensivtäter genannt, ausgelöst. „Die Zeit der Kuschelpädagogik ist vorbei“, hatte die CDU erklärt und strengere Gesetze zum Schutz vor Gewalt gefordert – und ausgerechnet von SPD-Innensenator Ehrhart Körting Beistand bekommen.

Es geschieht an einem Samstagmittag. Der siebenjährige Christan S. ist zum Spielen rausgegangen. Er trägt ein T-Shirt, eine kurze Hose und läuft barfuß. Als er nicht zur verabredeten Zeit nach Hause kommt, macht sich sein Vater auf die Suche. In einem kleinen Waldstück unweit der Wohnung findet er sein Kind. Es liegt nackt mit zertrümmertem Schädel unter einer Plastikplane.

Drei Tage später wird Ken M. gefasst. Die Kripo macht keinen Hehl daraus, wie sehr sie dieser Fall bewegt. Und die Boulevardblätter folgen der Devise „So sieht die Inkarnation des Bösen aus“: Sie präsentieren fortan seitenlange Beiträge und großformatige Fotos vom Täter, der grundsätzlich nur noch „der Killer“ genannt wird.

Täter und Opfer hatten in Zehlendorf quasi Tür an Tür gewohnt. Ken M. war schon früher durch Gewaltdelikte aufgefallen. Der Vater, ein schwarzer GI, ist tot. Seine Mutter lebt in Amerika. Der Junge wuchs bei seinen Großeltern auf. Aber sie waren offensichtlich überfordert. Immer wieder befasste sich das Jugendamt mit der Familie. „Wir haben so viel gemacht, wie wir konnten“, gab die Zehlendorfer Jugendstadträtin damals der Presse zu Protokoll. „Aber es hat wohl nicht gereicht.“

Nicht nur das Verhalten des Jugendamtes bringt Polizei, Politik und Medien in Wallung. Die Hauptkritik richtet sich gegen die Justiz in persona eines Haftrichters, der Ken M. wenige Wochen vor dem mutmaßlichen Mord Haftverschonung gewährt hatte. Vorausgegangen war, dass eine Gruppe von Jugendlichen, zu der Ken M. gehörte, einen Soldaten zusammengeschlagen hatte. Wäre Ken M. inhaftiert worden, so der Vorwurf, wäre Christian noch am Leben.

Selbst das Abgeordnetenhaus befasst sich mit dem Fall. Vor dem Rechtsausschuss verteidigt Oberstaatsanwalt Manfred Schweitzer die Entscheidung des Haftrichters: Aus der Beweislage habe sich „nicht klar“ ergeben, ob Ken M. derjenige war, der auf den Soldaten eingeschlagen hatte.

Schweitzer, dem die Sonderabteilung für Intensivtäter untersteht, verwahrt sich auch mit Nachdruck gegen Verallgemeinerungen. Ken M.s Fall „ist Gott sei Dank ein Einzelfall“, sagt er. „Deshalb sollte man über ihn auch als Einzelfall reden.“ Rund 400 Jugendliche und Heranwachsende sind zurzeit als Intensivtäter erfasst. Ken M. ist der einzige, dem Mord vorgeworfen wird. Noch etwas unterscheidet seinen Fall von den meisten anderen Intensivtätern: die sexuelle Komponente. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Angeklagte das Kind durch Schläge mit einem Ast und heftige Tritte gegen Kopf und Hals tötete, um „seinen angestauten Frust abzureagieren und sich sexuelle Befriedigung zu verschaffen“.

Das Gericht hat für den Prozess vier Verhandlungstage in mehrwöchigem Abstand angesetzt. Außer den Prozessbeteiligten dürfen nur die Eltern des Opfers teilnehmen. Die Vertreter der Presse werden die Tür zum Gerichtssaal belagern, aber die Öffentlichkeit hat keinen Zutritt, wenn ein Jugendlicher vor Gericht steht. Wie grausam die Tat auch ist – für Ken M. besteht nun zum ersten Mal die Chance, nicht als Monster, sondern als Mensch wahrgenommen zu werden.

(*) Name geändert

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