: Maultaschen & Co – Ist das Arbeitsrecht zu pingelig?
BAGATELLEN Einer Pflegerin wurde gekündigt, weil sie sechs Maultaschen mitnahm. Nächste Woche kämpft sie vor Gericht erneut gegen ihren Rausschmiss
JA
Barbara E., „Emmely“, 51, war Kassiererin, wurde wegen zwei Pfandbons entlassen
Nicht wirklich zu pingelig, aber auf jeden Fall zu einseitig. Ein Bagatelldelikt, das für ein Amtsgericht kein ausreichender Grund für die Kündigung eines Geschäftsführers oder Vorstandsmitglieds ist, reicht dem Arbeitsgericht für die fristlose Kündigung eines Arbeitnehmers völlig aus. Zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden gravierende Unterschiede gemacht, auch in den weiteren Instanzen, und das ist nicht in Ordnung. Auch Verdachtskündigungen sind nicht in Ordnung. Ganz schlimm ist es, wenn beides zusammenkommt, denn in den seltensten Fällen kann man sich dagegen wehren. Die Arbeitsgerichte wälzen bei Verdachtskündigungen oder Bagatellkündigungen alles einseitig auf den Kläger ab. Der Verlierer ist dabei immer der Arbeitnehmer. Schließlich verliert er seine Arbeit, seine Existenz und alles, was damit verbunden ist – und nach Meinung der Arbeitsgerichte ist das absolut rechtens. Darüber muss unbedingt anders entschieden werden. Sowohl Politik als auch Gerichte müssen das korrigieren. Wir sind zwar ein demokratischer Staat, werden aber nicht so behandelt. Da stimmt etwas ganz gewaltig nicht in unserem System. Das gilt es umgehend zu ändern, und ich hoffe, dass es mit meinem Fall gelingt.
Wolfgang Nešković, 61, Rechtsexperte der Bundestagsfraktion Die Linke
Bagatellkündigungen sind grob unsozial. Sie treffen kleine Arbeitnehmer mit übermäßiger Härte. Sie entziehen diesen Menschen ihre Existenzgrundlage. Und sie lassen den Eindruck entstehen: Die Kleinen bestraft man für Nichtigkeiten, während Führungskräfte für vergleichbare Fehltritte niemals belangt werden würden. Bagatellkündigungen stehen in keinem Verhältnis zu den Fehlern der Arbeitnehmer. Diese handeln meist nicht mit krimineller Energie, sondern sind in der Regel einfach sorglos und unbekümmert. Damit ist ihr Verhalten zwar nicht entschuldigt. Aber eine Kündigung ist unverhältnismäßig. Hier wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Die Arbeitsgerichte befördern diese Ungerechtigkeit. Ihre Rechtsprechung verkehrt die ursprüngliche Zielrichtung des bestehenden Gesetzes ins Gegenteil. Sie ignorieren die nach dem Gesetz bestehende Pflicht zur Interessenabwägung. Eine Abmahnung reicht bei Bagatelldelikten völlig aus.
Erika Ritter, 54, Fachbereichsleiterin für Handel bei der Gewerkschaft Ver.di
Die fristlose Kündigung ist eine sehr harte Strafe. Auch wenn die Juristen das formal anders bewerten. Denn eine fristlose Kündigung hat problematische, häufig unabsehbare Konsequenzen. Betroffene Menschen werden einen solchen Makel nie mehr los. Häufig landen sie dauerhaft in Hartz IV, tariflich bezahlte Arbeitsplätze sind momentan schließlich rar. Für eine fristlose Kündigung muss es deshalb einen wirklich triftigen Grund geben. Fristlose Kündigungen wegen des Aufladens eines privaten Handys am Arbeitsplatz, des Mitnehmens von sechs Maultaschen oder des Einlösens von Pfandbons im Wert von 1,30 Euro zeugen von traurigen Verhältnissen. Und das Argument der Arbeitgeber, Vertrauensverhältnisse seien verletzt worden, ist oftmals nicht tragbar. Vielmehr wird es eingesetzt, um Menschen wegzudrücken. Jetzt zur Krisenzeit wird ein solcher Grund wahrscheinlich sogar vorgeschoben, um auf günstige Art und Weise Personal loszuwerden. Denn eine Bagatellkündigung kostet wirklich kaum etwas. Wir brauchen folglich klare Regelungen, die Bagatellkündigungen verhindern. Es muss gesetzlich eine Grenze gezogen werden, die festlegt, was Bagatellen überhaupt sind. Die bestimmt, wann es genügt, eine Abmahnung zu erteilen. Zusätzlich müssen Arbeitgeber ihren Angestellten klar mitteilen, was sie akzeptieren und was nicht. Sonst kann jeder dafür belangt werden, dass er zum Beispiel einen Kugelschreiber einsteckt.
NEIN
Johannes Vogel, 27, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion
Rechtspingeligkeit gibt es nicht, Rechtsklarheit schon. Und in einem Punkt ist das Arbeitsrecht klar: Außerordentliche Kündigungen sind nur mit einem „wichtigen Grund“ zu rechtfertigen, zum Beispiel einer Straftat. Zuletzt wurde häufig über Kündigungen wegen kleinerer Diebstähle berichtet, was SPD und Linke auf eine Idee gebracht hat. Solche Kündigungen sollten untersagt werden, ein kleiner Diebstahl dürfe nicht mehr allein für eine Kündigung ausreichen. Übersehen, bestimmt nicht absichtlich, wurde, dass dies schon Rechtslage ist. Denn das Arbeitsgericht prüft im Einzelfall, ob eine Kündigung wegen Diebstahls verhältnismäßig ist oder nicht. Sollte wirklich nur ein geringfügiger Diebstahl vorliegen, verliert der Arbeitgeber den Prozess so gut wie sicher. Das kann nur vor Gericht entschieden werden. Alle Versuche, das gesetzlich abzubilden, münden in Unsinn. Wie sollte so ein Gesetz auch aussehen? Einmal klauen ist erlaubt, zweimal verboten?
Horst Probst, 61, Leiter der „Kaufhausdetektive“ im Bundesverband Deutscher Detektive
Für einen praktizierenden Kaufhausdetektiv stellt sich, allein aus strafrechtlicher Sicht, immer die Frage: Ist bei einem Delikt wie dem Diebstahl geringwertiger Güter eine untere Grenze zu ziehen? Und wenn ja, wo? Würde man eine Grenze ziehen, würde sie immer infrage gestellt. Schließlich kann der Unterschied zwischem entstandenem Schaden und einer Grenze auch bloß ein Cent betragen. Das Gleiche gilt für Diebstahl von Mitarbeitern. Nur, dass zur strafrechtlichen Wertung dann ein gestörtes Vertrauensverhältnis hinzukommt, das unter Kollegen oft besteht. Diebstähle von Freunden, Verwandten oder eben Arbeitskollegen sind schon moralisch viel schärfer zu bewerten als Diebstahl unter Fremden. Folglich kann das Arbeitsrecht gar nicht pingelig genug sein.
Martin Wickert, 28, Rettungsassistent aus Bremen, hat die Frage auf taz.de kommentiert
Das Arbeitsrecht ist nicht pingelig, es ist absolut klar definiert. Wer stiehlt, zerstört ein Vertrauensverhältnis. Das Problem ist eigentlich eher, dass Arbeitgeber eine Möglichkeit gefunden haben, Arbeitnehmer ohne Abfindung rauszuschmeißen. Früher brauchte man seine Mitarbeiter, wusste den Erfahrungsschatz der älteren Arbeitnehmer zu würdigen. Vor allem aber kam man nicht auf den Gedanken, seine Angestellten möglichst kostengünstig zu „entsorgen“ – um sie dann durch einen billigeren Berufseinsteiger mit befristetem Kettenvertrag zu ersetzen. Bei diesem Thema spielen zwei Dinge zusammen: die sich nach unten drehende Lohnspirale und die Möglichkeit, dank Gesetzeslücken teuere Langzeitarbeiter zu entlassen. Die Schuld liegt also nicht bei der Judikative. Die Legislative ist es doch, die solche Lücken schließen muss.
Heribert Jöris, 46, Geschäftsführer des Deutschen Handelsverbands
„Du sollst nicht stehlen.“ Mit vier Worten bringt Exodus 20,2-17 auf den Punkt, dass man sich nicht am Eigentum anderer vergreifen darf. Moderne Rechtsordnungen benötigen dafür mehr Worte. Ein Arbeitsgericht hat zur Begründung, dass Mitarbeiter keine Pfandbons entwenden dürfen, 24 Seiten gebraucht. Drei Gerichtsinstanzen haben sich mit der Klage von Emmely befasst. Das spricht eindeutig dafür, dass das Arbeitsrecht nicht pingelig ist, sondern es Arbeitgebern nicht einfach macht, wenn sie eine Kündigung wegen Diebstahls aussprechen wollen. Klar ist, dass es für den Arbeitgeber keine klaren Regeln gibt und er deshalb das Risiko hat, dass das Gericht seiner Abwägung nicht folgt.
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