FÜR DIE UNION BESTEHT MIGRATIONSPOLITIK VOR ALLEM AUS DROHUNGEN: Die Pervertierung der Integration
Das ganze Land redet darüber, was beim Zusammenleben von alteingesessenen Deutschen und Migranten schief läuft. Das ist gut, weil es wirklich viel zu verbessern gäbe. Migranten haben schlechtere Bildungschancen und sind deshalb öfter arbeitslos als die Durchschnittsdeutschen. Manche resignieren und bleiben von der deutschen Durchschnittswelt abgeschottet in ihren ethnischen Communities – ohne Perspektive auf gleichberechtigte Teilhabe. Wer das alles bisher verdrängte, wurde durch den Hilferuf der Rütli-Lehrer wach gerüttelt. Doch leider entwickelt sich die politische Debatte seitdem in eine völlig falsche Richtung.
Die Union ist dabei, den Begriff Integration zu pervertieren. Kein Tag vergeht ohne neue Drohungen an „die Ausländer“, die bestraft oder abgeschoben werden sollten, wenn sie sich nicht „besser“ integrieren. Und zwar prompto. Mal sollen die Migranten sämtliche Nebenarme der Donau aufsagen, die kaum ein deutscher Professor kennt. Mal sollen sie Bekenntnisse zum liberalen Umgang mit Homosexualität abgeben, die der deutsche Papst verweigern würde. Die Fantasie bei der Errichtung neuer Hürden ist unerschöpflich. Wie in der Steinzeit der Integrationsdebatten werden Migranten, die seit Generationen hier leben, als „Ausländer“ ausgegrenzt. Und die Kanzlerin – sie schweigt.
Nun gehört es zu den Erfolgsrezepten Angela Merkels, zu vielen Fragen keine Meinung zu vertreten. Ob Kündigungsschutz oder Atomausstieg – worüber die Koalitionäre auch streiten, die Kanzlerin hält sich heraus – und wird mit Popularität belohnt. Doch wenn sie in der Migrationspolitik die Scharfmacher weiter schwadronieren lässt, zahlt sie dafür einen hohen Preis: Die Modernisierung der CDU zu einer Großstadtpartei des 21. Jahrhunderts. Statt absurde Forderungen aufzustellen, müsste die Union konstruktive Angebote machen. Doch dazu fehlt auch Merkel offenbar der Mut.
Vorschulische Sprachbildung in Gratiskindergärten beispielsweise wäre dringend nötig – würde aber Geld kosten. Dezentrale Verteilung von Migrantenkindern auf Schulen, darüber lohnte es sich zu diskutieren – würde aber auch Widerstand wecken. Da ist es viel bequemer, Integration zu fordern und nichts dafür zu tun. LUKAS WALLRAFF
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