: Die Zeit in der Zelle
GESCHICHTE In der ehemaligen Stasi-Haftanstalt und heutigen Gedenkstätte eröffnet die Dauerausstellung „Gefangen in Hohenschönhausen“. Es ist die erste Dauerausstellung vor Ort
SÄTZE EINER GEFANGENEN
VON BARBARA BOLLWAHN
Gleich im ersten Raum bekommen die Gefangenen ein Gesicht. An den Wänden hängen erkennungsdienstliche Fotos von Frauen und Männern, die in der Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit inhaftiert waren. Es sind bekannte Gesichter wie das des verstorbenen Bürgerrechtlers Jürgen Fuchs, des ebenfalls verstorbenen Dissidenten Rudolf Bahro oder der Bürgerrechtlerin und Politikerin Vera Lengsfeld. Aber auch die vielen unbekannten Personen, die zu den etwa 40.000 Gefangenen vor Ort gehörten, werden sichtbar und hörbar. Sätze wie „Ich wollte mein Recht haben“, „Was soll ich hier?“, „Was weiß die Stasi über mich?“ kommen per Lautsprecher wie aus dem Inneren des Raumes, ein Lichtkegel zeigt auf die dazugehörigen Schwarz-Weiß-Fotos.
Nach zweijähriger Sanierung hat die Gedenkstätte im einstigen zentralen Stasi-Untersuchungsgefängnis der DDR in Hohenschönhausen am Freitag ihre erste Dauerausstellung eröffnet: „Gefangen in Hohenschönhausen: Zeugnisse politischer Verfolgung 1945 bis 1989“. Auf 700 Quadratmetern werden rund 500 Exponate, 300 Fotos und zahlreiche Zeitzeugeninterviews präsentiert. Die Ausstellung ergänzt die bisherigen Gruppenführungen ehemaliger Häftlinge durch den Zellentrakt. Neu entstanden sind außerdem ein Besucherzentrum mit einem Buchladen, ein Café sowie Seminarräume und Toiletten, die in den früheren Garagen der Haftanstalt untergebracht sind. Auch die Bibliothek mit 8.000 Bänden hat nun mehr Platz für Besucher.
Die Dauerausstellung kostete fast 3,3 Millionen Euro, der Umbau der Gedenkstätte etwa 13 Millionen Euro. Der Bund und das Land Berlin teilten sich die Kosten. „Seit Gründung der Stiftung gab es Pläne, eine ständige Ausstellung in der Gedenkstätte einzurichten, um den Besuchern die Geschichte des Ortes nahezubringen“, sagte Gedenkstättenleiter Hubertus Knabe zur Eröffnung. Die Gedenkstätte müsse sich zudem auch auf eine Zeit ohne Zeitzeugen vorbereiten.
Eben weil es in nicht allzu weiter Ferne keine lebenden Zeitzeugen mehr geben wird, stehen diese auch im Mittelpunkt des zweiten Raumes der Ausstellung. In diesem gibt es so viel zu sehen und zu lesen, dass man sich wünscht, einige der Hocker aus dem Innenhof, auf denen Besucher sich ausruhen können, würden auch hier stehen. Ein breites Spektrum tut sich auf, überschrieben jeweils mit nur einem Wort: „Staatsgewalt“, „Haftgründe“, „Spätfolgen“, „Bewacht“, „Abgerichtet“, „Eingemauert“, „Verprügelt“, „Allmächtig“.
Unter dem Stichwort „Verzweifelt“ geht es etwa um das völlige Ausgeliefertsein. Bei einer Zellenkontrolle einer Gefangenen mit der Häftlingsnummer 497, so hält es ein Schreiben der Haftanstalt I vom 1. Juli 1952 fest, wurden in die Zellenwand gekratzte Sätze gefunden: „Ich nehme mir das Leben, weil ich es nicht mehr aushalte. Tröstet meine Eltern.“ Durch „besondere Wachsamkeit eines Hauptwachtmeisters“, heißt es weiter in dem Bericht, „wurde der Gefangenen ein 4 cm langer Nagel abgenommen“. Bei einer Leibesvisitation wurden zudem „ein kleiner Schuhnagel und ein Kieselstein gefunden“. Die Frau, hielten die Bewacher schriftlich fest, gab die Einkratzungen zu. „Der große Nagel sollte zur Öffnung der Pulsadern Verwendung finden.“ Andere Berichte halten versuchte und auch geglückte Selbstmorde von Gefangenen fest.
Unter dem Begriff „Verspottet“ ist zu erfahren, wie akribisch die Stasi selbst die Spitznamen notierte, die Gefangene sich für die namenlosen Wächter ausdachten. Fein säuberlich mit Tinte ist festgehalten, dass Majore, Oberleutnants und Unterleutnants „Der kleine Major“ genannt wurden, „Rückspiegel“, „Nu nu“ oder „Oben und unten“. Kein Vorkommnis war den Wächtern nicht einen Bericht wert. So wurde in einem Protokoll im Dezember 1985 festgehalten, dass ein Gefangener Brotscheiben in hohem Bogen aus dem Fenster warf. „Womit?“, fragt das Protokoll – „Hand“. „Warum? – „Spaß“, „Wem?“ – „Den Hunden“.
Und es gibt auch Objekte mit Seltenheitswert – so wie das einzig bekannte Originalfoto eines Häftlings beim Verhör in Hohenschönhausen. Günter Schau ist darauf zu sehen, wie er meditiert, um sich den Fragen des Vernehmers zu entziehen.
Ob das Klopfzeichenalphabet, mit dem Gefangene kommunizierten, oder die Spielfiguren aus Brotkrümeln, Pappe und Kleidungsfasern, die Gefangene zur Ablenkung bastelten – die Einblicke in das Leben im Stasigefängnis sind vielfältig und oftmals ergreifend. So wie das Schicksal von Katharina Lässig, das unter dem Stichpunkt „Ungenehmigtes Verlassen der DDR“ erzählt wird. Versteckt in einem Kofferraum wollte sie zu ihrem Verlobten nach Westdeutschland flüchten. Sie wurde festgenommen, angeklagt und zu 18 Monaten Haft verurteilt.
Nach ihrer Festnahme musste sie in Hohenschönhausen noch einmal in das Fluchtauto steigen. Ein Foto zeigt eine junge Frau mit dunklen Haaren, die ernst von der Rückbank in die Kamera schaut. Im Gefängnis hat Katharina Lässig ein Bild für ihre Eltern gemacht. Es besteht aus dem Inhalt eines Päckchens, das ihre Eltern geschickt haben. Auf ein Stück einer Konfektpackung hat sie mit Pralinenfüllung einen Zweig geklebt und aus Silberpapier Vogelnester gestaltet. „Ein seltenes Dokument privater Selbstbehauptung“, heißt es dazu.
Ähnlich anrührend sind auch die Zeilen einer Mutter, die aus der Haft an ihre Kinder schrieb: „Es ist sehr traurig, wie alles gekommen ist“, steht etwa in einem ihrer Briefe. „Wenn wir alle wieder beisammen sind, machen wir es uns wieder schön zu Hause.“
Bisher haben seit der Gründung 1994 drei Millionen Menschen die Gedenkstätte besucht, die den gesetzlichen Auftrag hat, über Ausstellungen zur Auseinandersetzung mit den Formen und Folgen politischer Verfolgung und Unterdrückung in der kommunistischen Diktatur anzuregen. Der dreimillionste Besucher wurde Anfang September begrüßt, ein US-Amerikaner.
Nach Angaben der Gedenkstätte ist die Zahl ausländischer Gruppenbesucher in den letzten Jahren stetig gestiegen – von knapp 29.000 im Jahr 2008 auf mehr als 69.000 Besucher im Jahr 2012. Die Gedenkstätte verzeichnet ohnehin seit Jahren steigende Besucherzahlen: Während 1994 insgesamt 3.000 Menschen das ehemalige Stasi-Gefängnis besichtigten, waren es im vergangenen Jahr 354.000 Menschen.
In einem separaten Teil der Dauerausstellung wird auch ein Blick in die Welt der Täter geworfen. Die Direktorenräume mit gemusterter Tapete und gepolsterten Türen, mit Telefonanlage, Schrankwänden und dem obligatorischen Erich-Honecker-Bild an der Wand wurden nach Fotos aus dem Jahr 1981 und unter Verwendung von Originaleinbauten rekonstruiert. Die Täter selbst sind zwar nicht zu sehen – aber ihr damaliges Tun ist zu hören. Mit lautem Klappern einer Schreibmaschine werden Berichte über Beurteilungen und Fluchtversuche von Gefangenen an die Wand geschrieben.
■ Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Genslerstraße 66, Mo.–So. 9–18 Uhr, der Eintritt zur Dauerausstellung ist frei
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