: „Nur schöne Bücher machen, das reicht nicht“
DIE VERLEGERINNEN Die Schwestern Selma Wels und Inci Bürhaniye waren es leid, vergeblich auf deutsche Übersetzungen türkischer Belletristik zu warten – und gründeten einen eigenen Verlag. Mit Binooki wollen sie die Kulturen ihrer Heimatländer verbinden und Klischees brechen
■ Die Macherinnen: Die Schwestern Inci Bürhaniye (* 1967) und Selma Wels (* 1979) sind Töchter türkischer Gastarbeiter, die in den 1960ern aus Izmir nach Deutschland gekommen sind. Bürhaniye ist Fachanwältin für Steuer- und Gesellschaftsrecht, Wels hat BWL studiert und zuletzt für Filmproduktionen gearbeitet. Seit über 20 Jahren leben sie mit ihrer dritten Schwester in Berlin.
■ Der Verlag: Zur Leipziger Buchmesse im März 2012 erschienen die ersten Binooki-Bücher auf dem Markt. Das Profil des jungen Verlags (www.binooki.com): nur türkische Literatur in deutscher Erstübersetzung, darunter Klassiker, Krimis, Zeitgenössisches und Phantasy. Mittlerweile haben sie 14 Bücher von zwölf Autoren im Programm. Sie wurden 2013 mit dem Kurt-Wolff-Förderpreis und als Newcomer des Jahres mit dem Buchmarkt Award ausgezeichnet.
INTERVIEW ANNE HAEMING FOTOS WOLFGANG BORRS
taz: Frau Wels, Frau Bürhaniye, Sie sind gerade zum zweiten Mal als Verlegerinnen auf der Frankfurter Buchmesse. Wie läuft’s?
Selma Wels: Super, heute kam spontan Bundestagspräsident Norbert Lammert vorbei und hat uns für unsere Arbeit gelobt, das war die Überraschung des Tages. Leider war er schon wieder weg, bevor ich ihm ein Buch von uns in die Hand drücken konnte.
Ihr Verlag heißt Binooki und bringt türkische Literatur auf Deutsch heraus. Benannt haben Sie ihn nach dem Binokel – zwei Brillengläser für zwei Kulturen, wie Sie sagen. Aber wie sind Sie denn ausgerechnet auf dieses altertümliche Wort gekommen?
Inci Bürhaniye: Na, wir haben erst mal nach Buchstaben gesucht, die uns gefallen.
Buchstaben?
Bürhaniye: Ja, schöne Buchstaben eben. B war schnell in der engeren Auswahl. Und dann habe ich mir eben ein deutsch-türkisches Wörterbuch genommen und habe bei B angefangen zu blättern. Dann sagte ich zu Selma: Schau mal, Binoki, wie findest du das?
Wels: Das klang einfach super, ich habe sofort geschaut, ob die Domain noch frei ist – ja, war sie.
Bürhaniye: Dass da eigentlich Binokel stand, habe ich erst später gesehen – ich hatte meine Brille nicht auf.
Angefangen hat alles auf einer anderen Buchmesse, und zwar 2010 in Istanbul. Was ist da passiert, dass eine BWLerin und eine Anwältin beschlossen: Wir müssen einen Verlag gründen?
Bürhaniye: Man muss sich das schon so vorstellen: Wir sind über die Messe gelaufen, und ich habe zu Selma gesagt: Schau, das Buch ist toll, und das musst du lesen, und das da ist auch toll.
Wels: Und ich jedes Mal: Ich warte, bis es auf Deutsch erschienen ist. Das sagte ich schon seit mindestens zehn Jahren. Ich lese Bücher einfach nicht auf Türkisch. Das ist zwar meine Muttersprache, aber Deutsch ist die Sprache, in der ich zu Hause bin, in der ich mich besser fühle.
Bürhaniye: Wir saßen mittags in der Cafeteria und fragten uns, wieso die türkische Literaturszene in Deutschland nicht stärker wahrgenommen wird. Das änderte sich nicht mal, als die Türkei Gastland der Buchmesse war und Orhan Pamuk den Literaturnobelpreis gewonnen hat. Und dann dachten wir eben: Wenn nicht wir das schaffen, wer denn dann? Ich bin Gesellschaftsrechtlerin und berate viele Startups, Selma ist BWLerin, also alles, was man braucht, um ein Unternehmen zu gründen – und wir lieben die Literatur.
Es gibt Binooki jetzt seit anderthalb Jahren. Wie hat sich der Verlag entwickelt?
Bürhaniye: Es trägt sich. Aber es bleibt noch nicht so viel für uns übrig. Drei Tage die Woche arbeite ich nach wie vor in der Kanzlei.
In „Glut“, einem Buch aus Ihrem aktuellen Programm, finden sich auch ein paar junge Leute, die zusammen mehr oder weniger spontan eine Druckerei übernehmen und einen Verlag gründen. Haben Sie das Buch deswegen genommen?
Wels: Ja, beim ersten Lesen könnte man schon denken, das ist ja wie bei uns: Leute, die keine Ahnung als Verleger haben, es aber trotzdem machen. Anders als in „Glut“ drucken wir hier kein Geld!
Bürhaniye: Das Buch hatte ich schon vor unserer Gründung gelesen und war von der Sprache begeistert. Als wir den Verlag starteten, war mir von Anfang an klar: Das müssen wir unbedingt haben. Meine größte Sorge war anfangs, ob uns türkische Autoren überhaupt die Rechte an ihren Werken übertragen würden – aber da sind wir offene Türen eingerannt.
Woher kommt denn Ihre Liebe zur Literatur?
Bürhaniye: Unser Vater war ein großartiger Geschichtenerzähler. Jeden Abend haben wir darauf bestanden, dass er uns was erzählt. Er saß dann an unseren Betten und hat Geschichten erfunden über Wölfe und Sultane, hat Märchen, die er kannte, weitergesponnen. Als wir im September in der Türkei waren, haben wir ihn auch besucht und gesagt: Schade, dass wir diese Geschichten nie aufgeschrieben oder aufgenommen haben.
Als Ihre Eltern in den 1960ern aus Izmir herkamen, hat Ihre Mutter eine Kiste mit Büchern mitgebracht. Wo sind die Bücher denn jetzt?
Bürhaniye: Bei mir zu Hause. Alles Klassiker der türkischen Literatur, die haben wir schon als Kinder gelesen. Als Grundschullehrerin war unsere Mutter natürlich hinterher, dass wir lasen, Bildung war ihr wichtig. Sie bestand auch darauf, dass wir einmal die Woche in den Türkischunterricht gehen.
Lesen Ihre zwei Kinder die alten Bücher heute?
Bürhaniye: Nein, meine Tochter liest gerade die Phantasybücher aus unserem Programm. Türkisch kommt bei uns leider zu kurz. Ihr Vater ist Deutscher, der spricht kein Türkisch. Sie wollen in der Schule dazugehören, fühlen sich eher deutsch – das merkt man besonders, wenn sie heimkommen und sagen, dass die türkischen Kinder immer nur mit dem Handy spielen und dauernd Fernsehen schauen.
Wels: Die beiden sind auch Gesellschafter.
Bürhaniye: Ja, als wir den Verlag gegründet haben, haben sie gesagt, sie wollen sich unbedingt beteiligen. Also habe ich 20 und 40 Euro Taschengeld als stille Einlage bekommen.
Ihr Verlag sitzt in Kreuzberg, dem Stadtteil, in dem viele mit türkischem Migrationshintergrund leben. Sind Sie deswegen hier?
Wels: Nein, das ist echt reiner Zufall. Die Bürogemeinschaft, in der ich zuvor gearbeitet hatte, sitzt im Hinterhaus. Und auf dem Sommerfest habe ich zufällig mitbekommen, dass hier vorne eine kleine Gewerbeeinheit frei wird. Da habe ich sofort einen Termin ausgemacht, um mir die Räume anzuschauen.
Bürhaniye: So richtig engen Kontakt zu dem Umfeld hier haben wir gar nicht.
Seit wann sind Sie denn in Berlin?
Bürhaniye: Ich bin seit 20 Jahren hier, ich wollte schon immer unbedingt nach Berlin und bin dann sofort für mein Referendariat hierher. Und als dann noch unsere andere Schwester und 1996 auch Selma nachkam, war erst recht klar: Wir bleiben hier. Das ist jetzt unsere Heimat.
Hätten Sie den Verlag auch woanders aufziehen können?
Bürhaniye: Ein Verlag mit einem Profil wie unserem lässt sich in Berlin besser realisieren. Das ganze Umfeld ist vielfältiger, das passt, um unsere Literatur zu präsentieren. Was hätten wir davon, wenn wir eine Lesung in Hintertupfingen machen könnten, zu der drei Leute kommen? Die Leute hier sind neugierig, da gibt es ein Publikum.
90 Prozent Ihrer Kunden sind Deutsche. Wieso sind es nicht mehr mit türkischem Migrationshintergrund, die türkische Literatur nur auf Deutsch lesen, so wie Sie, Frau Wels?
Wels: Ich hätte auch gedacht, dass es mehr Menschen interessieren würde, die eine kulturelle Verbindung zur Türkei haben. Abgesehen davon: Jeder deutschsprachige Leser gehört zu unserer Zielgruppe. In Deutschland werden ja schließlich viele internationale Autoren gelesen – warum dann nicht auch türkische?
Wie präsent sind denn Migranten der zweiten Generation bei Lesungen Ihrer Autoren?
Bürhaniye: Es gibt eine richtige Fangemeinde von Alper Canıgüz – die kommen immer. Die lesen die Bücher zwar im Original, sagen uns aber trotzdem: Wir finden es toll, dass ihr das jetzt endlich auf Deutsch herausbringt.
Die Canıgüz-Bücher sind schräg, eines handelt von einem Kater, der eine Werbeagentur leitet. Überhaupt: Ihre Bücher haben eine sehr junge Anmutung. Empfinden Sie sich als Teil einer Art Berliner Subkultur, die etwa auch moderne türkische Küche neu erfindet und zeitgenössische türkische Musik feiert?
Wels: Ja, aber man bekommt diese Subkultur eben nicht unbedingt mit, wenn man nicht wie wir Teil davon ist.
Bürhaniye: Außer man läuft mit offenen Augen durch Kreuzberg – allein im Ballhaus Naunynstraße passiert ja ganz viel, was zu dieser Szene gehört.
Viele dieser jungen Berliner Deutschtürken haben während der Auseinandersetzungen am Taksim-Platz im Sommer am Kottbusser Tor täglich demonstriert oder gleich ihren Rucksack gepackt und sind für ein paar Wochen nach Istanbul gegangen. Hatten Sie das auch überlegt?
Wels: Ich hatte definitiv den Gedanken, zum Gezi-Park zu gehen. Aber das war genau zu der Zeit, als wir mit den beiden Autoren auf Tour waren. Beide leben in Istanbul, so haben wir das Ganze noch einmal viel intensiver erlebt. Die haben dann zu Hause angerufen und gefragt, was denn gerade los ist. So war es leichter für uns einzuordnen, was stimmt und was nicht stimmt.
Ihr Autor Emrah Serbes war sehr aktiv involviert in die Proteste. Er wurde wegen Beleidigung angezeigt, weil er den Namen von Ministerpräsident Erdoğan verballhornte. Plötzlich waren Sie als Experten gefragt, jenseits der türkischen Literatur.
Wels: Während der Gezi-Park-Proteste haben wir gemerkt: Es reicht nicht, schöne Bücher zu machen. Viele unserer Freunde wollten mehr wissen, haben aber nichts verstanden. Also haben wir in der Zeit nonstop türkische Artikel und Blogposts ins Deutsche übersetzt. Gerade bereiten wir eine Anthologie vor mit Texten unserer Autoren über diesen Protestsommer in der Türkei. Der Band wird im Frühsommer erscheinen, ein Jahr danach.
Sie waren zuletzt im September in Istanbul. Wie empfanden Sie die Stimmung?
Bürhaniye: Bedrückt. Istanbul ist eigentlich eine junge und fröhliche Stadt, aber niemand dort ist so unbekümmert wie vorher, das ist nicht zu übersehen.
Wels: Wir waren nicht am Taksim-Platz selbst. Aber überall stehen noch Polizisten und Wasserwerfer rum, auch wenn wir keine Auseinandersetzungen mitbekommen haben.
Inci Bürhaniye
Bürhaniye: Nur nachts hörst du, wie Leute auf Töpfe schlagen.
Wels: Und wenn du morgens aus dem Hotel kommst, ist es, als sei nichts gewesen.
Ihr Verlagsmotto lautet: „Achtung, klischeefreie Zone!“ Welche Stereotypen darf es denn nicht geben?
Wels: Nehmen Sie „Unsere große Verzweiflung“ von Barış Bıçakçı. Das Buch erzählt von zwei Männern, die in Ankara in einer WG zusammenwohnen, und dann zieht noch die Schwester von einem Freund ein. In einer Szene kochen die beiden Männer. Die Reaktion hier in Berlin war: Wie? Türkische Männer, die kochen? – Oh Mann. Aber wir glauben eben, dass das ein Weg ist, um Klischees etwa über türkische Männer zu brechen: In dem Moment, in dem Deutsche das lesen, können sie eher glauben und annehmen, dass es das gibt. Wenn ich hingegen erzähle, dass mein Vater zu Hause kocht, würde mir das vermutlich keiner glauben – dabei kocht er wirklich sehr gut.
Unterscheiden sich die Berliner Klischees von süddeutschen?
Bürhaniye: Gar nicht, aber hier kann man sich eben von jenen fernhalten, die einem mit Vorurteilen begegnen. In Pforzheim konnte man sich dem nicht entziehen, weil es eben schlicht nicht so viele von uns dort gab.
Mussten Sie auch schon Ihren türkischen Autoren Klischees ausreden, die sie über Deutschland hatten?
Wels: Leider sind das ja keine Klischees. Als wir im Sommer mit zwei Autoren auf Lesereise waren, saß eine ältere Frau mit im Zugabteil. Wir unterhielten uns mit den Autoren. Sie wurde fuchsteufelswild und schrie: Sie sind hier in Deutschland, Sie haben sich auf Deutsch zu unterhalten! Und: Türken sind immer so laut!
Bürhaniye: Ich bin irgendwann zur Schaffnerin und sagte: Bei aller Liebe, Sie müssen diese Frau umsetzen. Das hat sie netterweise auch getan. Aber beim Rausgehen sagte die Frau noch: Jetzt sind hier schon Deutsche gegen Deutsche! – Wir haben uns so geschämt vor unseren Autoren.
Wels: Uns war so was noch nie passiert.
Sie sind Schwestern mit einem Altersunterschied von immerhin zwölf Jahren. Wie hat sich denn Ihre Beziehung verändert, seit sie täglich zusammenarbeiten?
Wels: Gar nicht. Sie weiß, wie ich ticke, ich weiß, wie sie tickt. Die klassische Literatur der Moderne, die wir von unseren Eltern mitbekommen haben, ist eher Incis Ding, ich kümmere mich mehr um die jungen Autoren.
Bürhaniye: Und der Altersunterschied ist bei uns besonders gut, weil wir so unterschiedliche Bereiche abdecken. Beim Digitalen ist Selma eindeutig im Vorteil. Wenn es ein Interview auf Türkisch sein soll, sagt sie zu mir: Mach du mal. Ich finde, dass wir Schwestern sind, ist eine super Voraussetzung für unsere Arbeit.
Sie sind in Pforzheim geboren und aufgewachsen. Fühlten Sie sich eigentlich vom Berliner Schwabenbashing vor ein paar Monaten angesprochen?
Bürhanyie: Nein, überhaupt nicht. Pforzheim ist ja gerade noch Baden! Das Badische ist zwar ein Teil von mir, aber es überwiegt nicht. Zumal ich ja schon seit über 20 Jahren in Berlin lebe. Und: Wir wohnen ja eh nicht in Prenzlauer Berg.
Wels: Uns nimmt man nicht als Schwaben wahr. Wir sprechen auch keinen Dialekt, auch wenn es schön ist, mal „e bissle zu schwätze“. Da staunen die meisten, wenn sie das hören.
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