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Dürfen wir es uns mit Russland verscherzen?

BOYKOTT Korruption, Ausbeutung, Homophobie – welcher Missstand ist der nächste? Bundespräsident Gauck fährt jedenfalls nicht zu den Olympischen Winterspielen nach Sotschi

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Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt. Eigentlich immer am Dienstagmittag. Diesmal aber erst: am 31. Dezember. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz.

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Ja

Anton Hofreiter, 43, ist Vorsitzender der Bundestagsfraktion der Grünen

Von Syrien über den Iran bis Afghanistan – viele entscheidende internationale Fragen lassen sich nur im konstruktiven Dialog mit Russland lösen. Aber Partnerschaft darf nicht in Duckmäusertum ausarten. Viele Menschen sehnen sich dort nach Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Transparenz. Es reicht nicht, kritische Fragen nur im Hinterzimmer anzusprechen. Manchmal braucht es deutlichere Symbole. Das Anti-Homosexuellen-Gesetz zeigt: Die Menschenrechtssituation in Russland ist höchst bedenklich. Die Demokratie in Russland erlebt mehr Rück- als Fortschritte. Putin will durch die Olympischen Spiele sein Image aufpolieren und sich als vermeintlich weltoffen präsentieren. Dafür muss man ihm nicht unnötig Schützenhilfe liefern. Besser fände ich eine kritische Begleitung durch Mitglieder des Menschenrechtsausschusses, um nicht nur den Menschen in Russland, sondern auch den Sportlerinnen und Sportlern den Rücken zu stärken.

Wanja Kilber, 32, unterstützt im Verein Quarteera homosexuelle russische Flüchtlinge

Wenn Gauck nicht nach Sotschi fährt, ist das ein großes Zeichen. Wenn Merkel nicht nach Sotschi fahren würde, wäre es ein noch größeres Zeichen. Vieles, was jetzt in Russland passiert, gab es 1936 schon bei den Olympischen Spielen in Berlin. Jüdische Sportler durften mitspielen, damit die Welt beruhigt ist, so wie auch Putin jetzt sagt, dass homosexuelle Besucher nicht verfolgt werden. „Gewisse Juden müssen begreifen, dass sie die Spiele nicht als Waffe in ihrem Boykott gegen die Nazis benutzen können“, sagte der Chef des Olympia-Komitees Avery Brundage damals. Der deutsche IOC-Präsident Thomas Bach macht hier den gleichen Fehler wie 1936. Deutschland sollte Putin und Herrn Bach zur Verantwortung ziehen. Denn Putin ist weit weg, sein Handlanger dagegen ist hier.

Andreas Kappeler, 70, ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Uni Wien

Der Fall Ukraine zeigt, Russland verfolgt unverhüllt seine geopolitischen Interessen. Wir müssen Russland entschlossen entgegentreten. Wir dürfen ebenfalls nicht hinnehmen, dass die russische Regierung Oppositionelle wie Michail Chodorkowski, die den Machterhalt der politischen Eliten zu bedrohen scheinen, mit willkürlichen Methoden ausschaltet. Wir müssen Russland daran erinnern, dass es als Mitglied des Europarats mit Sanktionen zu rechnen hat, wenn es die Spielregeln missachtet. Wir müssen es in Kauf nehmen, es uns mit Russland zu verscherzen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Putin entschlossenen Widerstand ernst nimmt und es sich seinerseits mit der EU nicht verscherzen will.

Hannes Munzinger, 25, ist taz-Leser und hat unseren Streit per E-Mail kommentiert

Die Absage des Bundespräsidenten an die Olympischen Winterspiele ist keine Kalkulation und keine diplomatische Dämmerstunde. Gauck sendet freiheitsbewegten Russen ein Signal der Anerkennung. Alle Argumente, man dürfe keine Zeigefinger-Symbolik betreiben oder den Sport nicht politisch missbrauchen, lassen ihn kalt. Dass jedoch über Gauck im Kreml nicht debattiert wird, war erwartbar: Hinter der Fassade des repressiven Regimes sitzt Putin zu fest im Sattel, um von einem deutschen Freiheitsapostel vom Ritt in die Autokratie abgebracht zu werden. Gut ist, wenn nun Sportfunktionäre über die Albernheit ihrer geforderten „Einhaltung Olympischer Werte während der Spiele“ nachdenken. Der Bürgerrechtler Gauck weiß, dass sich Menschen, die den Mut haben sich zu verweigern, Freiheiten bewahren können.

Nein

Wladimir Kaminer, 46, ist deutscher Schriftsteller russischer Herkunft

Natürlich nicht! Man kann nicht erwarten, dass die Menschen nach 70 Jahren Sklaverei und strenger Zensur selbstbewusst in die Freiheit steuern. Die Freiheit muss erkämpft werden, das wissen die Deutschen gut. Um diesen Kampf zu gewinnen, braucht man Freunde. Die Deutschen hatten die Amerikaner, die Russen hatten niemanden, der ihnen bei der Entstalinisierung half. Sicher wissen die Russen, dass im 21. Jahrhundert ein Land nicht von einem KGB-Offizier und seinen Schulfreunden durchgehend regiert werden sollte. Doch die Angst vor Ungewissheit überwiegt. Die Menschen denken, dass es besser sei, lange denselben schrecklichen Zaren zu haben. Wer weiß schon, ob der nächste nicht noch schrecklicher ist? Putin kennen sie immerhin schon seit vorigem Jahrhundert, er ist seit 1999 im Amt. Man soll die Russen nicht im eigenen Saft schmoren lassen, man soll ihnen Mut machen. Und alle schwulen Sportler sollen zur Winterolympiade fahren und das ganze Gold dort holen.

Nina Hagen, 58, engagiert sich momentan mit „PatVerfü“ gegen Zwangspsychiatrie

Ich verscherze es mir doch nicht mit meinen russischen Freunden, nur weil ich mit ihnen über die Menschenrechte diskutiere. Wir haben auch in Deutschland Menschenrechtsverletzungen. Ich setze mich für Freiheit und gegen die Zwangspsychiatrie ein. Aber in meiner Funktion als Künstlerin bin ich diplomatisch unterwegs und versuche mit meiner Musik zu befrieden. Ich stimme mit der Bürgerrechtlerin Coretta Scott King überein: Homophobie ist dasselbe wie Rassismus! Sie appelliert an alle, die an Martin Luther Kings Traum glauben, lesbischen und schwulen Menschen einen Platz zu geben neben den anderen Brüdern und Schwestern. Also liebes Mütterchen Russland, bitte bleiben Sie menschlich!

Sevim Dagdelen, 38, Linkspartei, ist Sprecherin für Internationale Beziehungen

Es ist bedenklich, dass die Bundesregierung dabei ist, einen kalten Krieg gegen Russland vom Zaun zu brechen. Dass Außenminister Guido Westerwelle die ukrainische Opposition ohne Wenn und Aber unterstützte – zu der auch die faschistische Partei „Swoboda“ gehört –, ist ein schockierender Schritt. Ein schulmeisterlicher Ton in Sachen Menschenrechte ist besonders unangebracht, während sich zeigt, dass staatliche Stellen in Deutschland über Jahre den NSU-Terror gedeckt haben. Wir brauchen eine neue Entspannungspolitik in Europa. Statt imperialem Getöse müssen wir eine Partnerschaft auf Augenhöhe anstreben. Das bedeutet, sich nicht am atomaren Aufrüstungsprojekt gegen Russland, dem Nato-Raketenschild, zu beteiligen. Deutschland muss aufhören, antirussische Ressentiments zu schüren.

Tanja Walther-Ahrens, 43, ist Ex-Fußballerin und Aktivistin gegen Homophobie

Ich habe es zwar nie bis zu den Olympischen Spielen geschafft. Aber ich weiß, welchen Zauber internationale Sportveranstaltungen nach innen und außen tragen. Ich weiß, welche Wirkung sie besitzen – emotional, persönlich und politisch –, obwohl sie doch so unpolitisch sein sollen. Ein Boykott ist aber keine Strafe für Putin und seine menschenverachtende Politik, sondern für die Sportler_innen. Es wäre gut, den Protest nach Sotschi zu verlegen – mit kleinen Gesten. Zum Beispiel: regenbogenfarbene Fingernägel (im Winter wohl eher die regenbogenfarbenen Handschuhe), eine Regenbogenflagge auf den Rängen oder ein Gruß in einem Interview an die lesbischen und schwulen Freund_innen.

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