: Ein tödliches Gefühl der Sicherheit
Im Dezember erstach ein 18-Jähriger einen Gleichaltrigen nach einem Streit in einem BVG-Bus. Nun entschuldigt sich der Täter vor Gericht. Das spätere Opfer hatte dem Täter den Messerstich vor Überwachungskameras nicht zugetraut
Videoüberwachung gilt als Maßnahme zur Erhöhung der Sicherheit. Die kann sich jedoch als tödlicher Trugschluss herausstellen. Das wurde in einem Prozess vor dem Landgericht deutlich. Dort muss sich seit gestern der 18-jährige Oliver B. wegen Totschlags verantworten. Er hatte am 19. Dezember 2005 einen Gleichaltrigen in einem BVG-Bus erstochen. Unmittelbar vor der Tat hatte das spätere Opfer gesagt: „Stich doch zu, traust du dich eh nicht! Hier sind überall Kameras!“ Das berichteten vor Gericht nahezu übereinstimmend der Angeklagte und die Freundin des Opfers.
Zum Auftakt seiner umfänglichen Einlassung entschuldigte sich der Angeklagte: „Es war nicht gewollt.“ Er habe zu Hause mit seiner Freundin gestritten und anschließend zwei statt wie üblich nur eine Ecstasy-Tablette genommen: „Ich wollte meine Freunde unter den Tisch trinken. Sonst vertrage ich nur wenig.“ Bevor er sich mit seinen Kumpels traf, steckte er ein scharfes Küchenmesser ein. Er habe sich öfter bewaffnet, erst im Sommer 2005 sei ihm sein Handy „abgezogen“ worden, begründete das der Angeklagte. Bei seinem Freund Alex habe er noch Cannabis geraucht und Bier getrunken. „Ich war ziemlich benebelt.“
Gemeinsam mit Kumpel Nick seien sie schließlich zu dritt mit Bierflaschen in den Bus der Linie 167 gestiegen – ohne konkretes Fahrziel. Zu einem Schulkameraden, den Oliver B. im Bus traf, sagte der wegen Raubes vorbestrafte Angeklagte: „Vielleicht noch jemanden abziehen.“
Den weiteren Ablauf schilderte Sarah W. vor Gericht. Sie sei mit ihrem Freund Jan R. in den Bus zugestiegen. Das Trio um Oliver B. habe die junge Frau nach ihrer Telefonnummer gefragt, sie dann provoziert und nachgeäfft. Daraufhin habe das junge Paar beschlossen, Musik zu hören, doch Sarahs Discman funktionierte nicht. Irgendwann sei Jan R. auf die Provokationen eingestiegen. „Nick und Jan haben sich aufgeführt wie Hähne“, erzählt Sarah W. Plötzlich habe Nick gedroht: „Wenn du jetzt nicht dein Maul hältst, schlage ich dir die Flasche auf den Kopf.“ Daraufhin habe Jan ihm die Flasche aus der Hand gerissen und hielt sie nach unten.
Erst dann mischte sich der bislang passive Oliver B. ein. Er holte sein Küchenmesser aus der Jackentasche. Zunächst hätten sie und ihr Freund ihn aufgefordert, das Messer wegzulegen. Drohend hätten sich die Kontrahenten gegenübergestanden. Kurz nach Jans Verweis auf die Kameras habe Oliver zugestochen.
Einen etwa 20 Zentimeter tiefen Stichkanal fanden später die Obduzenten. „Es war ein entschlossenes Zustechen“, erklärte ein Rechtsmediziner. Die vierte Rippe wurde fast vollständig durchtrennt. Trotz schneller notärztlicher Versorgung verblutete der 18-Jährige. „Dieses ganz Banale“, sagt Staatsanwalt Ralph Knispel, sei die Besonderheit dieses Falls. Wegen nichts wurde ein junger Mann getötet.
Der Täter wurde nicht durch die Videokameras überführt. Aus Datenschutzgründen wurden die Aufnahmen alle sechs Minuten überschrieben. Inzwischen ist diese Zeit auf 16 Stunden heraufgesetzt worden.
Oliver B. will von den Folgen seiner Tat erst am nächsten Tag aus dem Fernsehen erfahren haben. Er beichtete es seiner Freundin, die erzählte es einer weiteren Freundin und die der Polizei. Ein Urteil wird in dem Prozess für Ende Juni erwartet.
UTA FALCK
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