: Berlin lässt Menschen werden
BERLIN IM FILM Peter Nau untersucht in seinem neuen Buch, „Irgendwo in Berlin“, wie sich der Stimmungsgehalt der Metropole in Begegnungen und Dialoge im Film überträgt
VON MICHAEL FREERIX
Die Stadt als Zentrum und Schauplatz von Filmgeschichten – lange Zeit galt dies als unvorstellbar. Denn Filme spielten an fernen Orten, in fremden Zeiten. „Alle Städte sind gleich, wenn man nur die Denkmäler wegnimmt“, behaupteten Mitte der zwanziger Jahre Filmschaffende. Nichtsdestotrotz gibt es eine unüberschaubare Vielzahl von Großstadtfilmen, die für den Berliner Autor Peter Nau Anregung genug sind, sich damit auseinanderzusetzen.
Bereits in Büchern wie „Spätlese“ und „Zur Kritik des politischen Films“ hat Nau geradezu beispielhaft Schauplätze und ihre filmische Darstellung analysiert. Sein jüngstes Buch, „Irgendwo in Berlin“, befasst sich nun mit dem „Stimmungsgehalt“ der Straßen dieser Metropole und damit, wie sich dieser Stimmungsgehalt in Begegnungen, Dialoge und die Anziehungskraft zwischen Figuren im Medium Film überträgt. Ein Filmkritiker im landläufigen Sinne des Wortes will Peter Nau nicht sein; nicht beurteilen oder bewerten will er, sondern mit Leichtigkeit und Lakonie durch Filme hindurchspazieren.
Skizzenhaft wirken die dabei entstandenen Texte, die jedoch ein überaus facettenreiches Gesamtbild des städtischen Lebens entwerfen, in dem das Innenleben der Figuren nicht nur mit der Außenwelt in Beziehung steht, sondern diese in sich hineinzieht.
27 Filme stellt Nau in „Irgendwo in Berlin“ vor, unter ihnen Arbeiten von Konrad Wolf, Thomas Heise, Victor Vicas, Alexander Kluge und Helmut Käutner, um nur die bekannteren Regisseure zu nennen. Ihre Filmkunst stellt Berlin als einen Ort dar, „an dem die Menschen ihr innerstes Recht auf Werden ausleben dürfen“, so sieht es Nau.
Dieses Recht manifestiert sich für Nau besonders in den Filmen des Malers und Dokumentaristen Jürgen Böttcher. Böttcher ist eine Art Außenseiterchronist der DDR. Er filmte Ofenbauer, Rangierer oder Küchenfrauen bei der Arbeit. Damit sie sich und den Filmemacher nicht durch unbedachte Äußerungen in Schwierigkeiten brachten, montierte er seine Filme häufig ganz ohne Dialog oder Kommentar. Trotzdem eckten die Filme bei der DDR-Regierung an und kamen häufig nicht zur Aufführung.
Nach der Wiedervereinigung gelang es Böttcher nicht, seine Filmkarriere fortzuführen. Stattdessen konzentrierte er sich auf seinen Lebensweg als Maler, den er unter dem Pseudonym „Strawalde“ geht. Peter Nau besucht Böttcher in dessen Atelier in Berlin-Karlshorst. Mit einer sinnlichen Schilderung von Straßenszenen am S-Bahnhof Karlshorst beginnt er seinen Text, der eine Art Vorwort zum Buch ist, und leitet über in ein ausgedehntes Gespräch über Filmkunst und Malerei mit dem Künstler. Böttcher bedauere es, schreibt Nau, dass Filmkritiker so wenig von Malerei verstehen. Für Böttcher sei „Film Rhythmus und insofern Musik. Vieles trage zum Rhythmus eines Films bei, zum Beispiel auch der Wechsel und die gegenseitige Durchdringung von gesprochener Sprache und Schweigen, Ausgesprochenem und Nichtgesagtem, Klarheit und Geheimnis“. Aus diesen Elementen entsteht für Nau der filmische Raum, in dem sich die Story oder das Ereignis mit der ganzen umgebenden Welt verbindet. Böttcher sei ein Meister darin, dies zu filmen.
Nau trennt in seinem Buch nicht nach Dokumentar- oder Spielfilmen. Alles Gefilmte ist seiner Auffassung nach gleichwertig. Und er geht konzeptuell noch einen Schritt weiter. Er konfrontiert seine 30-zeiligen Betrachtungen, die er „Miniaturen“ nennt, mit dokumentarischen Ortsbeschreibungen aus dem Berliner Stadtraum. Er will nicht allein Berlinfilme unterschiedlicher Herstellungsjahre miteinander verschmelzen, sondern die Gegenwart mit der synthetischen Wirklichkeit seiner Filmauswahl durchdringen. Auf diese Weise werden Spindlersfeld, Moabit oder Kladow in den fragmentartigen Kanon der Filmstadt Berlin eingefügt, in dem „Gegenwart und Zukunft nicht wesenlos sind, weil die Spur der Vergangenheit in unser Bewusstsein eingebrannt ist“. Als Leser dieses Buches gewinnt man Erkenntnisse, die die Gegenwart wie verzaubert erscheinen lassen.
■ Peter Nau: „Irgendwo in Berlin. Ostwestlicher Filmdiwan“. Verbrecher Verlag Berlin 2013, 96 Seiten, 12 Euro
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