: „Die Bebauung ist nur was für Reiche“
AUF DER STRASSE Viele Berliner_innen unterschreiben fürs Begehren, weil sie der Politik und den Ankündigungen des Senats misstrauen
Sie haben ihr kleines Wägelchen strategisch positioniert, die Unterschriftensammler_innen des Volksbegehrens 100 % Tempelhofer Feld: direkt am Eingang des Marktes am Maybachufer in Neukölln. Wer dort einkaufen will, kann sie nicht übersehen: Mareike Witt, 32, Mathematik- und Thelogie-Studentin, Marie Dörbaum, 25, angehende Bauingenieurin, und Lino Weiße, 26, Mechaniker und Offizier bei der Bundeswehr. Die drei wünschen sich ein weiterhin unbebautes Feld und wollen dessen Zukunft nicht allein der Politik und Verwaltung überlassen.
Dafür opfert Lino Weiße nicht nur seine Freizeit. Er hat extra Urlaub genommen, um in den letzten zwei Wochen vor Fristende noch so viele Stimmen wie möglich zu sammeln. Sein Hobby heißt Windskaten – das ist wie Windsurfen, nur auf vier Rädern –, und das könne er sonst in Berlin nirgends sonst machen. Er habe es einmal auf dem Parkplatz eines Supermarktes versucht an einem Sonntag. Da hätten die Anwohner_innen die Polizei gerufen: Er dürfe dort nicht bleiben – Privatgrundstück. Von Ruhestörung war keine Rede, er skate auf leisen Gummireifen.
Maria Dörbaum ist Anwohnerin aus Neukölln und hat sich bereits kurz nach der Schließung des Flughafens für die Öffnung des Feldes starkgemacht. Sie hält es für naiv zu glauben, dass dort wie vom Senat versprochen bezahlbarer Wohnraum entstünde. Zudem würde die große Masse für die Erschließung des Feldes auch noch zahlen müssen, etwa für Straßen oder die Entsorgung des kerosinverseuchten Bodens.
Überzeugungsarbeit müssen sie an diesem Freitagnachmittag an der Grenze zwischen Neukölln und Kreuzberg nur selten leisten. Viele Passant_innen winken ab mit den Worten „Hab schon unterschrieben“ oder gehen direkt auf den Stand zu und unterschreiben. Nur ein Mann erregt sich lautstark, bevor er nach wenigen Sekunden im Gewühl des Marktes verschwindet. Andere würden gern unterschreiben, dürfen es aber nicht: Sie haben keine deutsche Staatsbürgerschaft. Die Enttäuschung, jahrelang in Berlin zu leben, Steuern zu zahlen, aber nicht mitentscheiden zu dürfen, erlebe sie oft, berichtet Mareike Witt.
Einer hat trotzdem unterschrieben: Sören Pederson aus Kopenhagen. Der 23-Jährige lebt derzeit als Austauschstudent in Berlin, ist aber auch als EU-Bürger nicht stimmberechtigt. Das Tempelhofer Feld sei etwas Besonderes, das erhalten werden müsste, findet er. Seine Unterschrift zählt indes nicht.
Dann ist überall München
Ähnlich wie Pederson denken Ilona Kagan, die Linguistik in Potsdam studiert, und Tea Patsuria, eine Freundin, die gerade aus Mannheim zu Besuch ist. Das Feld sei bereits für sich wertvoll, sagt Ilona Kagan. Berlin werde durch dessen Bebauung an Charakter verlieren, stimmt ihre Freundin zu. „Dann ist bloß überall München.“
Richtig zornig machen Marion Kunz, 56, Erzieherin an einer Neuköllner Grundschule, die Bebauungspläne. Die meisten Eltern ihrer Schulkinder lebten von Hartz IV. „Wir haben doch nicht mehr viele Orte, wo die hingehen können, ohne dass es Geld kostet“, sagt sie. Die Bebauung sei nur etwas für Reiche, die sich gleich wegen Lärm beschweren würden, wenn Kinder dann noch auf dem Feld toben dürften.
Sie bleibt mit ihrer Kritik nicht allein: Auch anderen Unterzeichner_innen geht es nicht nur um die Bebauung, sondern um die Politik des Senats insgesamt. Sie unterschreiben, weil sie ihm nicht trauen, dass es um mehr geht als nur um die Interessen einer schon jetzt gut situierten Minderheit. KIM TRAU
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