: Fiebermesser für Konzernchefs
ENERGIE Die Internationale Energieagentur hat erneuerbare Energien lange kleingeredet. Jetzt stellt sie in einer Studie fest: Stromversorgung auf Basis von Wind und Sonne kostet nicht mehr als das alte System
VON INGO ARZT
Wir schreiben das Jahr 2028. Deutschland ist immer noch Industrieland. Trotzdem oder gerade weil bereits die Hälfte des Stroms aus Windrädern und von Solardächern stammt, aus Wasserkraftwerken und Biogasanlagen. Das Land produziert seinen Strom zu Preisen, die nicht höher sind als in Ländern, in denen weiter auf Kohle und Atomkraft gesetzt wird.
Das Erstaunliche: Mittlerweile hält sogar die Internationale Energieagentur, kurz IEA, dieses Szenario für möglich. Sie war lange dafür bekannt, Öl, Gas und Kohle billig und erneuerbare Energien teuerzurechnen. Dabei ist die IEA nicht irgendein Institut. Sie ist die wichtigste internationale Autorität in Energiefragen: Eine zwischenstaatliche Organisation im Rahmen der OECD, die ihr Budget von 28 Mitgliedsländern erhält, meist EU-Staaten, aber auch Japan, den USA oder der Türkei. Die Prognosen ihres jährlich erscheinenden Weltenergieberichts tauchen überall auf, egal ob die EU ihre Klimaziele bis 2030 verhandelt oder Barack Obama heimische Neuwagen spritsparender machen will.
In dieser Woche publizierte die IEA den Bericht „The Power of Transformation“. Darin simulierte sie für 15 Länder verschiedene Varianten von Energiesystemen, mit verschiedenen Anteilen an Kohle, Gas, Wind oder Solarstrom. Die Frage war, was es kosten würde, 45 Prozent Wind- und Solarstrom zu integrieren – also diejenigen erneuerbaren Energien, die mit Wind und Wetter fluktuieren.
Das Ergebnis: „Die zusätzlichen Kosten liegen bei 10 bis 15 Prozent im Vergleich zu einem System ohne erneuerbare Energien“, sagte Paolo Frankl, Leiter des Bereichs für erneuerbare Energien der Agentur. Dann ergänzte er, dass die Kosten auf Basis aktueller Preise für Wind- und Solaranlagen kalkuliert sind. Die werden aber ständig billiger. Rechne man das mit ein, plus einem höheren Preis für den Ausstoß von CO2, sieht das Ergebnis anders aus: „Die Extrakosten können dann auf null gedrückt werden.“ Allerdings: „Deutschland zahlt den Preis dafür, Vorreiter bei den erneuerbaren Energien zu sein“, schränkt IEA-Geschäftsführerin Maria van der Hoeven ein.
Früher hat die IEA erneuerbare Energien systematisch unterschätzt. 2004 rechnete sie damit, dass sie im Jahr 2030 sechs Prozent des weltweiten Strombedarfs decken würden. Ende 2012 waren es bereits 5,2 Prozent (jeweils ohne Wasserkraft). Mittlerweile hat die IEA ihre Prognosen für Solarenergie verzehnfacht. Beim Ölpreis lag sie im Jahr 2004 legendär daneben – 29 Dollar sollte das Barrel im Jahr 2030 kosten. Schon heute übersteigt der Preis das Dreifache.
Dahinter stecken mehr als reine Zahlenspiele. Man muss die IEA als eine Art Fieberthermometer der globalen Energiewirtschaft sehen. „Maßgebliche Erkenntnisse“, schreibt die Agentur in ihrem Weltenergiebericht selbst, liefert ihr der sogenannte Energy Business Council. In dem sitzt die Elite der weltweiten Erdöl-, Kohle-, Gas-, Atom-, und Autoindustrie. Daneben haben NGOs wie der World Wide Fund for Nature (WWF) oder ein paar Solarunternehmen eher Feigenblatt-Funktion. Wenn die IEA schreibt, ein Energiesystem auf Basis von Wind- und Solarenergie koste künftig nicht mehr als eines auf Basis fossiler Rohstoffe, dann ist diese Erkenntnis auch bei Konzernchefs angekommen.
Trotzdem sieht ein langjähriger Kritiker der IEA immer noch alte Mechanismen am Werk: Der Physiker Werner Zittel ist Mitglied der Energy Watch Group, eines Zusammenschlusses aus Politikern und Wissenschaftlern, die versuchen, mit eigenen Analysen der Meinungsmacht der IEA etwas entgegenzusetzen. „Einen grundsätzlichen Wandel sehe ich noch nicht“, sagt er. Immer noch verbreite die Agentur zu optimistische Zahlen über Öl, etwa aus Frackingfeldern.
Trotzdem habe sie die Relevanz der Erneuerbaren erkannt. Deshalb lassen sich aus dem Bericht wichtige Rückschlüsse für Deutschland ziehen: Die IEA sagt, stabile Energiesysteme wie das deutsche können einen Anteil von 25 Prozent an erneuerbaren Energien verkraften, ohne dass sie grundsätzlich umgebaut werden müssen. Bis zu diesem Anteil kann man gewissermaßen Windmühlen neben Kohlemeiler stellen und beide vor sich hinproduzieren lassen.
25 Prozent, das ist die Schwelle, die Deutschland gerade überschreitet. Danach, so die IEA, geht der eigentlich Umbau erst los: Es braucht Speicher, intelligente Netze, erneuerbare Energie, die bedarfsgerechter produziert wird – etwa Windräder, die auf schwache Winde optimiert sind. Zudem brauche es einen Plan, fossile Kraftwerke abzubauen, und eine Idee, wer dafür zahlt. Ein Problem, um dessen Beantwortung die Politik sich bisher drückt.
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