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Geschmähte Erinnerung

KOMMENTAR Statt der Geschichte der NVA-Bausoldaten werbewirksamer Nazi-Größenwahn: Die DDR-Vergangenheit ist bei der Vorstellung des hässlichen Kolosses von Rügen nach wie vor unterrepräsentiert

„Was hab ich verbrochen, was hab ich getan, dass ich in diese Wüste kam?“

SPRUCH IN DER KASERNE PRORA

VON STEFAN WOLTER

Gigantisch ist er, der Gebäuderiegel an der Prorer Wiek auf Rügen. Ein Brachialbau in lieblicher Bucht. Die gab dem Ungetüm seinen Namen – Prora. Der so genannte Koloss von Prora trägt viele Namen, nur einen hat er abgelegt. Den, unter dem er in der DDR vierzig Jahre lang bekannt und vielfach berüchtigt war. Der Spruch: „Was hab ich verbrochen, was hab ich getan, dass ich in diese Wüste kam?“ machte in der Kaserne Prora die Runde. Hunderttausende junge Männer über zwei Generationen hinweg haben den Ort erlebt. Dutzende Einheiten der Nationalen Volksarmee (NVA) hat er gesehen. Auslandskader wurden hier ausgebildet und Bausoldaten, die Waffendienstverweigerer der DDR, schikaniert. Die Suizide, auch die in den Muckereinheiten, sind ungezählt.

Doch gab es auch viele, die in Prora einen Arbeits- und Ausbildungsplatz fanden. Und nicht zu vergessen die Fallschirmjäger, deren einziges Regiment in der DDR zur heimlichen Aufrüstung des Landes gehörte. Am Ende der kilometerlangen Anlage, in Block V, trifft ihre Geschichte auf die der Bausoldaten. Diese bezogen ab 1982 nach ihnen die Räume – zwangskaserniert. Zivildienst gab es in der DDR nicht.

Diese reale Geschichte von Prora wird verdrängt. Der überwiegend aus Zeitzeugen bestehende Denk-Mal-Prora e. V., darunter ehemalige DDR-Oppositionelle und Opfer des SED-Regimes, haben immer wieder darauf hingewiesen. Der Verein wird nun zum 3. Oktober 2010 aufgelöst. Meist führen Politiker und Touristiker den größten Kasernenkomplex der DDR einseitig als das „ehemalige KdF-Bad“ oder als das „frühere Seebad der 20.000“ vor – wie es seit den 1990er Jahren auch die Wegweiser nach Binz vorgeben. Das ist touristenwirksam.

Die Nutzungsgeschichte des Blocks scheint es nicht wert, der unvollendet gebliebenen Baugeschichte des Kolosses gleichgestellt zu werden. Erweckt wird der Eindruck, als habe es dieses Bad der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ tatsächlich gegeben. Doch erst die DDR baute den Torso aus, gab ihm Zimmer, Türen, Fenster. Um 1980 folgte der graue Einheitsputz. Hunderte seeseitige Fenster sorgten für die Verknappung von Alurahmen in der Republik. Krankenhausneubauten mussten warten, weil Landesverteidigungsobjekte Vorrang hatten. Das traf auch den zivilen Bürger.

Zwischen 1982 und 1989 kamen tausende oppositionell eingestellte Jugendliche in Prora an ihre physischen und psychischen Grenzen. Dem fast täglichen Einsatz beim Hafenbau, zehn bis zwölf Stunden am Tag, folgte der Drill im Gelände. In der Etage unter ihnen wütete die Staatssicherheit. Die inzwischen unkenntlich gemachten Räume waren „Brutstätten oppositioneller Gedanken“, sie wurden „zur Teststrecke für den aufrechten Gang“ (Eisenfeld). Selbst eine Erinnerungstafel der Zeitzeugen mit dem Zeichen „Schwerter zu Pflugscharen“ scheint die Vollendung des KdF-Bades zu stören. Sie sollte auf den Geist und die Gewaltlosigkeit der hier stationierten Bausoldaten hinweisen.

Viele Orte im Osten könnte man nennen, in denen im Zuge ihrer Abwicklung die Geschichte gleich mit abgewickelt wurde. Für die Warnung von Zeitgeschichtlern, die DDR-Epoche könne allmählich aus dem historischen Bewusstsein verschwinden, scheint Prora ein augenfälliges Beispiel zu bieten.

In Block V, genau an der Schnittstelle der Diktaturen, dort, wo Regimebefürworter und -gegner zusammentrafen, entsteht die „längste Jugendherberge der Welt am Nordende der weltberühmten KdF-Bauten“. So bewirbt das Deutsche Jugendherbergswerk (DJH) gemeinsam mit dem Bildungsverein Prora-Zentrum das Weltbad mit Wohlfühlflair. Das DJH benutzt in seiner Werbebroschüre Propagandabilder des Dritten Reichs. Die Friedenszeichen der Bausoldaten sieht man dort nicht.

Unterdessen haben die Behörden die Idee aufgegriffen und jenen, die die Entsorgung ohne vorherige Dokumentation verhindert haben, die Ausrichtung eines Bildungszentrums im Rahmen der Jugendherberge übertragen. Bleibt zu hoffen, dass wenigstens ein authentischer Gemeinschaftsraum erhalten bleibt. Ihn hatten Zeitzeugen besetzt, weil er eine Besonderheit aufweist: Vor einem Vierteljahrhundert hatte hier ein Bausoldat eine Rügenkarte mit versteckten regimekritischen Botschaften an die Wand gemalt. Vielleicht ist der bunte Fleck später mal das Einzige, was an die reale Geschichte des Blocks in der DDR und an die Nischenkultur der Unangepassten erinnern wird.

Stefan Wolter, 43, war von November 1986 bis April 1988 in Prora stationiert. Als NVA-Bausoldat arbeitete er am Bau des Fährhafens Mukran mit. 2005 veröffentlichte er „Hinterm Horizont allein – Der Prinz von Prora“, 2009 „Der Prinz und das Proradies. Vom Kampf gegen das kollektive Verdrängen“ (beide im Projekte-Verlag) www.denk-mal-prora.de

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