: Die Unvereinbarkeit von Lithium und Lagerfeuer
OVERNIGHTER Mit dem Rad in den Wald und dort übernachten: ein neues Freizeitverhalten mit festen Regeln. Ein Erfahrungsbericht
VON GUNNAR FEHLAU
Früher, ja früher war alles noch ganz einfach: Drei Fernsehsender, D-Mark in überschaubarer Menge – und die Männer in der Midlife-Crisis setzten sich auf eine BMW-Gummikuh und brausten durch die Eifel. Aluboxen und Nordkap-Aufkleber halfen ihnen, sich am Hohen Venn in der Einöde Norwegens zu wähnen. Und wenn keine Leitplanke im Weg war, kehrten sie nach einigen Tagen wohlbehalten zurück und funktionierten wieder ungestört in ihren angestammten Rollen
Andererseits: Der Wunsch, „einfach mal kurz auszubrechen“, ist zeitlos, heute ebenso wenig zu unterdrücken wie damals. Neuerdings hat sich aber unter radaffinen Menschen (okay, bleiben wir ehrlich: Männern) dazu ein ziemlich anderes Format etabliert. „Overnighter“ heißt es. Es kommt gerade – wen wundert’s – mit schnellen Schritten aus den USA nach Europa: Statt ein Leben lang von der großen Radtour durch Australien oder zum Nordkap zu träumen, setzt Mann sich nach der Arbeit auf sein Fahrrad, fährt in den Abend oder in die Nacht hinein. Vorzugsweise auch in den Wald. Dort sucht er sich ein gemütliches Fleckchen, rollt seinen Schlafsack aus, macht vielleicht ein Bier auf und sinniert ein wenig über das Leben und den ganzen Rest. Und um vollends in die illegale Grauzone des deutschen Rechts vorzustoßen, wird auch gerne noch ein Feuerchen entfacht. Lagerfeuer-Meditation statt Yoga in der VHS. Am Morgen geht es zeitig wieder auf den Sattel, ein Coffee to go mit Brötchen aus dem Stehcafé unterwegs muss reichen, und dann rollt der Teilzeit-Abenteurer direkt zur Arbeit.
Es gibt bereits Fahrradhersteller, die ihr Marketing- und Produktmix punktgenau auf diesen auch „Bikepacking“ genannten Fahr- und Lebensstil abgestimmt haben. Und natürlich hat auch schon die Subkultur Dresscode und Verhaltenskodex herausgebildet. Wer dazugehören will, der verstaut sein Gepäck in speziellen Taschen, die sich ohne Träger am Rad montieren lassen. Eine ultraleichte Daunenjacke fürs abendliche Lagerleben (Faustregel: Ein Gramm Jacke kostet etwa einen Euro) ist ebenso Pflicht wie die Titanausgabe des Esbit-Kochers, mit dem schon die 68er-Generation während der Wehrübung die Bockwürste erwärmt hat. Und unbedingt beachten: Der perfekte Overnighter ist nur so gut wie die Fotos auf Facebook und die Anzahl der Kommentare!
Ich hatte ein paar sehr anstrengende Tage im Büro hinter mir. Das Wetter war seit Tagen so gut, dass ich ohnehin lieber auf dem Fahrradsattel als dem Bürostuhl gesessen hätte. Schnell per Smartphone-App die Nachttemperaturen gecheckt, zu Hause die Abwesenheit für knapp zwölf Stunden vereinbart. Doch an diesem Tag erschien mir das Lagerfeuer wichtiger als das Laktat in den Beinen: Wie also komme ich in den Wald, ohne mich zu verausgaben? Vielleicht mit dem E-Bike?
Ja, der Prototyp eines Fatbikes mit Motor kam mir gerade recht. Die monsterdicken Reifen dieses Bolidens mit seinem sanften Fahrverhalten passten genauso zu meiner Laune wie die Vorstellung, bergauf ein wenig Rückenwind aus dem Lithium-Ionen-Akku und somit aus der Steckdose zu erhalten. Also flugs das Rad gepackt und das obligatorische Foto in die sozialen Netzwerke gesendet.
Noch bevor der Motor die Anstiege der südniedersächsischen Hügellandschaft kleinstampfen sollte, überkam mich eine fürchterliche Angst vor einer Schlechtwetterfront. Nicht etwa am realen Himmel, sondern vor einer virtuellen. Ein Shitstorm par excellence schien mir plötzlich unausweichlich. Ich hörte die Bike-Fundis schon wettern, dass Lithium-Akku und Lagerfeuer-Biwak nicht kompatibel seien. Dass ein Pedelec-Fatbike für die sportliche Fahrt in den Forst nun wirklich nicht geht. Puh, hatte ich die Tabus der Szene gebrochen? Fiel meine Ehre meiner allzu leichtfertigen Fahrzeugwahl zum Opfer?
In der Tat: Mein Handy übermittelt mir acht Kommentare innerhalb einer viertel Stunde. Hektisches Scrollen. Aufatmen. Walter L. und René F., Koryphäen und Wortführer der Szene, erteilten mir eine Art von Absolution. Aber dann gefror mir das Blut in meinen motorgestützten Gliedern: „Wir werden nie wieder ein Wort mit dir wechseln!“ Also doch den Bogen überspannt? Ich las weiter: „Nee, bei dir weiß man ja, dass du es auch ohne Motor kannst.“ Entwarnung?
Nicht so ganz. Mein Kopf, dem ja eigentlich nach harmlosem Sinnieren zumute war, hatte noch lange Zeit einiges zu bewältigen: Darf nur der fitte Radsportler mit dem E-Mountainbike fahren? Sollte es genau genommen nicht umgekehrt sein? Jeder fährt mit dem Rad, das ihm gefällt und ihn voranbringt! Aber das E-Bike ist noch längst nicht in allen Radgattungen und -kulturen akzeptiert, geschweige denn selbstverständlich. Das ist noch ein weiter Weg. Den schaffte ich an diesem Abend nicht mehr. Und der Akku des Fatbikes übrigens auch nicht.
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