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Charité im Ausnahmezustand

Nach den mutmaßlichen Patiententötungen an der Uniklinik untersucht die Staatsanwaltschaft 15 weitere Todesfälle. Die Ermittler durchleuchten das persönliche Umfeld der Krankenschwester

VON F. LEE, K. LITSCHKO UND U. SCHULTE

Der Pförtner, der im Charité-Gebäude sitzt, schüttelt den Kopf: „Das ist doch verrückt.“ Und eine Schwester, die auf der kardiologischen Intensivstation arbeitet, sagt: „Hier ist heute alles anders.“ Seitdem bekannt wurde, dass eine Krankenschwester zwei Patienten mit einer Medikamentenüberdosis getötet hat, befindet sich die größte Uniklinik Europas im Ausnahmezustand. Im Gewühl der Fernsehteams mühten sich die Mitarbeiter gestern, ihrer Arbeit nachzugehen.

Die Klinikleitung befürchtet, dass sich der Fall zu einer Tötungsserie ausweitet. Sie hat inzwischen die Krankenakten von Todesfällen der vergangenen zwei Jahre auf der Intensivstation geprüft. 15 Menschen verstarben, als die besagte Krankenschwester Dienst hatte.

„Die Akten sind an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet worden“, sagte Charité-Sprecherin Kerstin Endele. Die 54-jährige Schwester war am Mittwoch unter Mordverdacht verhaftet worden. Sie hat gestanden, zwei Herzpatienten mit einer Überdosis eines blutdrucksenkenden Mittels getötet zu haben.

Die Staatsanwaltschaft sucht jetzt in alle Richtungen. „Ermittler durchleuchten das persönliche Umfeld der Frau“, sagt Sprecher Michael Grunwald. Sie war laut Charité als sehr zuverlässige Kraft bekannt. Nach Presseberichten war die Schwester der 54-Jährigen im Juli an Krebs gestorben. Zusammen mit einer Bekannten habe die Frau ihre Schwester in einem Pflegeheim besucht. Sie hätten oft über kranke Menschen gesprochen, hieß es.

Die Obduktionen der mutmaßlichen Opfer sind abgeschlossen. Wann die Ergebnisse vorlägen, sei aber unklar, so Grunwald. Labore müssten noch chemische und toxikologische Analysen vornehmen. Die Krankenakten werden nun auf Unstimmigkeiten geprüft. „Wir schauen nach auffälligen Symptomen oder unerwarteten Todeszeitpunkten“, sagt Endele.

Allerdings liefern die Akten nur Anhaltspunkte. Um eine Medikamenten-Überdosis feststellen zu können, ist eine Obduktion nötig. Ein im Jahr 2004 Verstorbener lässt sich schwerlich untersuchen. „Eine letzte Sicherheit gibt es nicht“, so Endele. Sie wollte nicht sagen, wie viele Verstorbene routinemäßig obduziert werden. Nur so viel: „Oft wünschen die Angehörigen keine Obduktion.“

Während im Klinikkollegium das Wort Sterbehilfe kursiert, warnte die Hospiz Stiftung davor, Patiententötungen zu relativieren. Unzureichend ausgebildetes Pflegepersonal und Zeitmangel begünstigten Überforderung, aber sie legitimierten nicht den Einzelfall des Tötens, erklärte Vorstand Eugen Brysch.

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