: Wenn der Alltag zu reizvoll wird
HOCHSENSIBILITÄT Als erstes Institut in Deutschland behandelt „Aurum Cordis“ Reizempfindlichkeit. Das Angebot mischt Medizin, Psychologie und Spiritualität. Doch wissenschaftliche Unterstützung fehlt bislang
VON NORA LASSAHN
Lärm, Abgase, Streit – fast jedem wird der Alltag manchmal zu stressig. Aber einige Menschen reagieren sensibler als andere auf diese Reize. Sie bekommen von aggressiven Farben Kopfschmerzen, müssen sich von einem Diskobesuch tagelang erholen, können sich dafür aber so gut in andere hineinversetzen, dass sie Probleme früher als ihre Mitmenschen erkennen. Hochsensibilität – in der Wissenschaft unter „sensory-processing sensitivity“ bekannt – wird seit den Siebzigern untersucht. Doch erst seit zwei Jahren gibt es in Buxtehude bei Hamburg das deutschlandweit erste Institut, das Hochsensiblen Diagnose und Therapie anbietet.
„Wir sind ein lernendes Institut“, sagt Jutta Böttcher, Gründerin und Geschäftsführerin des Zentrums „Aurum Cordis“. Da Hochsensibilität noch nicht zu Genüge erforscht ist, hat sie ihr Angebot entlang den Bedürfnissen ihrer Kunden entwickelt. Seit diesem Jahr gibt es neben Beratungen auch medizinische, psychologische und spirituelle Kurse, unter anderem Yoga, Klangmassagen und Meditation.
Der Begriff Hochsensibilität ist nicht geschützt. Besondere Reizempfindlichkeit kann nicht medizinisch diagnostiziert werden, da die Ausprägungen oft unterschiedlich sind. Fest steht nur: Bei Hochsensiblen werden Reize – Gerüche, Geschmack, Geräusche, Licht und Berührungen – anders gefiltert und dadurch länger und tiefer verarbeitet. Hochsensibilität gilt nicht als Krankheit, kann aber Auslöser für chronische Erkrankungen oder Depressionen sein und Stress verursachen. „Die Besucher des Instituts werden deshalb auch nicht Patienten, sondern Klienten genannt“, sagt Böttcher.
Einer Studie der amerikanischen Psychotherapeutin Elaine Aron zufolge sind 15 bis 20 Prozent aller Menschen hochsensibel. Alex Bertrams, Juniorprofessor für Pädagogische Psychologie an der Universität Mannheim, sieht diese Zahlen kritisch. „Davon bin ich nicht überzeugt.“ Er bezweifle zwar nicht, dass Menschen unterschiedlich sensibel auf Reize reagieren. „Es ist aber nicht klar, ob man diese Menschen wirklich in zwei Kategorien einteilen kann oder ob es eher ein Kontinuum mit vielen Abstufungen ist“, sagt Bertrams.
„Aurum Cordis“ versucht deshalb wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken und strebt bisher erfolglos eine Kooperation mit der Leuphana Universität in Lüneburg an. Die ehemalige Diplomkauffrau Jutta Böttcher ist selbst hochsensibel und will das Phänomen bekannter machen, um ähnlich fühlenden Menschen zu helfen: „Nur sehr wenige Betroffene wissen von ihrem Zustand. Darum ist das, was wir hier im Zentrum erleben, tief berührend. Die Menschen, die sich in unserer Beschreibung wiederfinden, sind total erleichtert, sich endlich wieder zu erkennen.“
Insgesamt hat „Aurum Cordis“ seit Bestehen über 150 Klienten behandelt. Viele davon seien Kinder, sagt Böttcher. Denn Hochsensibilität falle oft in der Schule auf. „Unser Alltag wird immer komplexer, zum Beispiel das Schulsystem. Hochsensibilität fällt stärker auf, weil Leute immer früher aus dem System rauskippen. Sie haben eine Signalfunktion und zeigen: Das System an sich ist überfordernd.“
Doch nicht nur die Klienten von „Aurum Cordis“ sind hochsensibel, sondern auch die Therapeuten. Laut Böttcher macht das die Einzigartigkeit des Instituts aus. „Hochsensible reagieren oft stärker oder schneller auf Medikamente und haben ungewöhnlichere Nebenwirkungen“, erläutert sie. Ein Arzt, der sich mit dem Thema nicht befasst habe, könne denken, sein Patient sei ein Hypochonder.
Momentan bleiben die Behandlungen allerdings denen vorbehalten, die es sich leisten können. Für eine Einzelbehandlung mit zwölf Stunden veranschlagt „Aurum Cordis“ 1.338 Euro. Dass das Angebot trotz Förderung durch die EU noch so teuer ist, liegt auch daran, dass das Institut ein auf Gewinn ausgerichtetes Dienstleistungsunternehmen ist. Um auch weniger betuchten Klienten eine Behandlung zu ermöglichen, sucht das Institut nach weiteren Sponsoren. „Hochsensibilität ist nicht in den Leistungskatalogen der Krankenkassen verzeichnet. Ich würde mir wünschen, dass sich das ändert“, sagt Jutta Böttcher. Auch Alex Bertrams hält es nicht für ausgeschlossen, dass Angebote für Hochsensible irgendwann in dem ein oder anderen Katalog einer Krankenkasse auftauchen könnten. Eine grundsätzliche Aufnahme hält er aber für unwahrscheinlich.
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