: Amüsemang!
IM GRAS Lange wurde das Tempelhofer Feld in Zusammenhang mit Krieg erinnert – die Luftbrücke, das Zwangsarbeiterlager der Nazis. Dabei geht es nicht nur heute viel vergnüglicher auf der großen Wiese zu: Schon Anfang des 19. Jahrhunderts amüsierte sich dort ganz Berlin. Über ein vergessenes Stück Geschichte
Der Orden der Tempelritter gründet eine Niederlassung auf dem Feld
Das Tempelhofer Feld wird
erstmals urkundlich erwähnt:im Friedensschluss des Markgrafen Ludwig mit der damaligen
Doppelstadt Berlin/Cölln
Der preußische „Soldatenkönig“ (1713–1740) Friedrich Wilhelm I. zeigt August dem Starken, Kurfürst von Sachsen, seine Militärmacht: 16.000 Soldaten paradieren über das Feld
Eröffnung des Vergnügungsparks Tivoli am nördlichen Rand des Geländes sowie erster Sportflächen für Fußball, Pferde- und Hunderennen
Anlage des Türkischen
Begräbnisplatzes am
heutigen Columbiadamm
Erste Ballonfahrt der „Humboldt“ am Tempelhofer Feld. Der Heißluftballon, von Kaiser Wilhelm II. persönlich finanziert, sollte wissenschaftliche Erkenntnisse über die Atmosphäre liefern. Die Humboldt brachte es auf sechs Flüge – dann beendete eine Explosion im Ballon die Aufklärungsflüge
Ferdinand Graf von Zeppelin überfliegt vor 300.000 schaulustigen Berlinern mit dem „LZ 6“, dem Vorläufer des ersten zivil genutzten Zeppelins „Deutschland“ (1910), das Feld
Verkauf des westlichen Teils des Feldes (140 Hektar) durch den Preußischen Militärfiskus an die Gemeinde Tempelhof
Eröffnung des Zentralflughafens
Gründung der Deutschen Luft Hansa AG. Der erste Flug: Tempelhof–Zürich, am 6. April
Baubeginn des neuen Flughafengebäudes durch die Nazis. Architekt ist Ernst Sagebiel
Der Flughafen Tempelhof wird Rüstungsbetrieb und Standort für NS-Zwangsarbeiter
Tempelhof wird Basis
der US Air Force
Der Tempelhofer Flughafen wird zur Drehscheibe der „Luftbrücke“, die das eingeschlossene West-Berlin mit den Alliierten verbindet
Wiederaufnahme des
zivilen Flugverkehrs
Inbetriebnahme des Flughafens Tegel – und erste
Einstellung des Flugverkehrs in Tempelhof (bis 1985)
Der Flughafen Tempelhof wird unter Denkmalschutz gestellt
Schließung des Flughafens Tempelhof
Das Tempelhofer Feld wird öffentlicher ParkChronik: rola
VON ROLF LAUTENSCHLÄGER
Seit ein paar Tagen ist Sommer in Berlin. Und das Tempelhofer Feld hat sich wieder zu einer Oase inmitten der Großstadt verwandelt. Tausende Besucher genießen tagsüber die Atmosphäre in der freien, 385 Hektar weiten Landschaft: zur Erholung, aus Lust und Laune – zum „Pläsier“, wie der Berliner sagt.
„Ein irrer Riesenpark“, sagt einer dieser Berliner und lässt seinen Blick über die große Wiese schweifen.
Patrick Wolters kommt nicht aus dem nahen Kreuzberg oder aus Neukölln, sondern aus Wilmersdorf. Das liegt für den Studenten nicht gerade um die Ecke, aber das Feld hat es dem leidenschaftlichen Inlineskater angetan: ein „gigantisches Eldorado“ für Trendsportler wie Waveboarder, Inlineskater, Drachensurfer, Jugger, Slackliner und Kiteboarder. „Es ist wie eine Droge“, sagt Wolters.
Man muss allerdings kein Anhänger der neuesten Fun-Sportarten sein, um Spaß auf dem Tempelhofer Feld zu haben: das Rasenmeer ist Liege- und Flanierwiese, Grill- und Spielplatz, die Rollbahnen bilden die Runways für die Radfahrer oder sind Bühne für Konzerte. Aber es geht auch passiver: So wie im Juli 2012, als zu den Olympischen Sommerspielen in London auf dem Tempelhofer Feld eine XXL-Leinwand installiert wurde, damit Tausende beim Public Viewing das Sportereignis bis tief in die Nacht miterleben konnten. Auf dem Gras vor der Leinwand wurde gelacht und geküsst, gepicknickt und getrunken. Man hörte: „Eh, wo gibt es gute Musik, nette Leute? Lust auf ein Spielchen?“ – „Nein, ich will nur ein Buch in Ruhe lesen!“ Es war gemütlich.
Magie ohne Parkbänke
Wenn die Berliner heute Tempelhof sagen, meinen sie den größten und wildesten Freizeitpark der Stadt. Kein Grünraum zieht mehr Besucher an, obwohl nicht einmal eine Parkbank hier steht. Für Matthias Lilienthal, früherer Theaterintendant am HAU und Initiator von Kunstprojekten auf dem Feld, ist es der „magische Schauplatz in Berlin, nicht mehr der alte Westen oder der Alexanderplatz, wie einst. Auf dem Tempelhofer Flugfeld bildet sich die Freizeitgesellschaft extrem ab.“
Bis zur Öffnung des Felds 2010 war das Areal im historischen Gedächtnis der Stadt jedoch ganz anders besetzt: martialisch, ein einstiges Rittergut, dann preußischer Exerzierplatz und Schießstand, unter den Nazis Zwangsarbeiterlager, dann US Air Base und schließlich: Drehscheibe der Luftbrücke, das „Tor zur freien Welt“. Insbesondere aber wird das Feld als Geburtsstätte der Luftfahrt erinnert (s. Zeitstrahl). Doch das ist Vergangenheit.
Quasi begraben unter diesen Erinnerungen liegt eine große, gleichwohl bis heute weit weniger beachtete zivile Tradition: Ebenso wie die aktuellen Freizeitnutzer belebten schon einmal erholungs- und vergnügungssüchtige Berliner das Tempelhofer Feld.
Es sind fast die gleichen Bedürfnisse wie die heutigen, als zum Beginn des 19. Jahrhunderts das Feld zum Fluchtpunkt der Berliner außerhalb der engen Stadtquartiere und Häuser, später der Mietskasernen und Hinterhöfe, wird. Das freie Land jenseits der engen Alltagswelt befriedigt die Wünsche nach Entgrenzung, Auszug und Freiheit. „Endlich (…) über den festen Lehmweg hin, trabte man jetzt wieder rascher auf Tempelhof zu. Neben der Straße stiegen Drachen auf, Schwalben schossen hin und her, und am Horizonte blitzten die Kirchtürme der nächstgelegenen Dörfer.“ Die neuen Metaphern für das Tempelhofer Feld, mit welchen Theodor Fontane in der Novelle „Schach von Wuthenow“ (1882) die Landpartie illustriert, sind nicht martialischer, sondern sanfter, lebendiger Natur: Drachen fliegen neben Vögeln, es ist Sommer, der Horizont ist weit. Bilder, die heute wieder Gültigkeit haben.
1829 hatte nahe des Exerzier- und Paradeplatzes der Vergnügungspark Tivoli eröffnet. Dort begannen oder endeten viele Ausflüge auf das Feld, zum „Amüsement“, wie man es es auf Berlinerisch sagt. Die große Wiese südlich der Hasenheide bildet die Bühne bürgerlicher und proletarischer Freizeit- und Vergnügungskultur.
Frolleins im Gras
Mit Frack und Zylinder und in voller Wichs, mit oder ohne Gattin am Arm, gehen die Berliner 1830 auf die Pferderennbahn am Tempelhofer Feld. Ein paar Jahre später entsteht dort ein Parcours für Hunderennen. Heute trainiert unweit davon, nahe dem Tempelhofer Damm, Berlins ältester Fußballklub, der BFC Germania 1888.
Es gibt historische Fotografien, Gemälde und Zeichnungen aus den späten Gründerjahren, wie die von Georg Koch oder Hans Baluschek, deren Motive unser heutiges Freizeitverhalten auf ähnliche Weise spiegeln: ein Sonntagnachmittag, ein Feiertag oder ein lauer Sommerabend nach der Arbeit. Familien, junge Männer, „Frolleins“ und Frauen haben sich mit Freunden auf dem Feld versammelt. Es sind so viele Menschen, dass man sie nicht zählen kann.
Man liegt im Gras, unterhält und erholt sich. Andere picknicken, tanzen, die Kinder spielen mit dem Ball oder lassen Drachen steigen. Das Feld ist riesig, ein eigener Kosmos, ein Fest. Häuser sind wie ferne Küsten ganz schwach am Horizont wahrnehmbar. Einige der Besucher haben ihre Jacketts ausgezogen, die anderen sind in bester Garderobe, im Kleid, mit Sommerhut und Schleife unterm Sonnenschirm erschienen. Sie erinnern an die Motive des Impressionisten Auguste Renoir, an den berühmten „Tanz im Moulin de la Galette“ (1876), wo die Lust und Leichtigkeit der französischen Bourgeoisie zu Beginn der Dritten Republik sich selbst feiert.
Nichts anderes erzählen die Sujets von Tempelhof. Das Feld ist da zum Pläsier, aber auch zur Repräsentation des selbstbewusst gewordenen Berlins, das sich hier ein Terrain für seine individuellen und kollektiven Bedürfnisse erobert hat.
Natürlich ist das neue Selbstbewusstsein der Sonnenanbeter und ihre Lebensfreude auf dem Tempelhofer Feld kein Berliner Phänomen. Die moderne Gesellschaft suchte überall in Europa nach Räumen zur Repräsentation, danach, ihre Freizeitbedürfnisse ausleben zu können.
Nach 1870, dann um 1900 und später nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs, als in den Metropolen und Industriegebieten der Raum enger wird, entstehen mehr und mehr Ausflugs-, Freizeit- und Sportanlagen. Die Reformbewegungen gewinnen an Einfluss, die Freikörperkultur wird zur Mode. 1907 werden 150 sogenannte Luftbäder im Kaiserreich gezählt.
Man neigt zur Masse
Mit der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik ertönt mit dem Ruf nach Befreiung der Arbeiterklasse zugleich der nach Befreiung des Körpers. „Raum für natürliches Leben, frische Luft, Licht, Wiese“, wie der Publizist Heinrich Pudor schreibt, findet sich in Tempelhof bereits; mit dem Bau des Sportparks Neukölln Anfang der 1920er Jahre an der Oderstraße folgt noch ein großes Stadion am Ostrand des Felds.
Dass Berlin den Ort hat, an dem sich jede Menge Menschen gern versammeln, hat Heinrich Heine einmal angemerkt. Richtig ist, man gibt sich individualistisch, neigt aber zur Masse. Dieses Gebaren lässt sich bis heute besonders bei Spektakeln wie der Fußball-Fanmeile, die ja auch demnächst zur Weltmeisterschaft in Brasilien wieder ansteht, dem Karneval der Kulturen, Papstbesuchen, dem Silvesterfest oder dem Berlin-Marathon mit Ziel am Brandenburger Tor beobachten. Man steht dort gern zusammen, könnte man es wertfrei formulieren. Krachend volle Bude, sagen andere.
Das gilt auch für das Tempelhofer Feld, als die ersten Luftschiffer ihre Flugexperimente mit runden und zigarrenförmigen Lenkballonen wagen – und schaulustige Berliner in Scharen nach Tempelhof pilgern.
Der Traum vom Fliegen, der Mythos des Ikarus, die Überwindung der Schwerkraft bilden die Metaphern für die Anziehungskraft des Tempelhofer Felds. Den Zeppelin „LZ6“, der 1909 über dem Feld kreuzt, bestaunen 300.000 Berliner, samt ihrem Kaiser. Nur wenige Tage später dreht Orville Wright mit seinem Aeroplan-Doppeldecker vor 150.000 Flugfans einen Rundenrekord.
Was später die Autorennen an der Avus und die Sechstagerennen werden – sportliches und gesellschaftliches Pläsier, Erlebnis und Identifikation mit moderner Technik –, ist das Tempelhofer Flugfeld nach der Jahrhundertwende. Erst recht, als 1923 der erste Flughafen gebaut wird – mit Anschluss an das U-Bahnnetz. Als der Zentralflughafen zur großen Attraktion wird, lässt sich Joachim Ringelnatz von diesem Enthusiasmus für Fliegerei und Feld zu dem 1929 erschienenen Gedichtband „Flugzeuggedanken“ anregen. „Da schwellt sich auf dem Festplatz unsre Brust / Denn Festplatz darf ich diesen Flugplatz nennen / Mit seinen Masten, Flaggen und Antennen. / Gezähmte Riesenvögel gibt’s zu sehn. / Dort landen sie in Kurven, sanft gelenkt, / Torkeln ein wenig, zwei, drei Schritte, / Daß man an Regenschirm und Raben denkt, / Und stehn. / „Aussteigen bitte!“
Die braune Unterhaltungsindustrie mit Marschkolonnen, Fahnenappellen und Lichtdomen, für den Publizisten Siegfried Kracauer Blaupause für seinen Aufsatz „Das Ornament der Masse“, haben dann nichts mehr mit dem Pläsier gemein. Beabsichtigten die Nazis, die Flugschau-Lust der Berliner zu instrumentalisieren, kommen dem die Alliierten und die Rote Armee mit ihrem Sieg über Hitler 1945 zuvor. Aus Hermann Görings „Luftstadion“ mit Tribünen für 65.000 Besucher auf dem Dach des Flughafengebäudes und weiteren am Rande des ovalen Flugfeldes wird nichts.
GIs, amerikanische Eiscreme, der Duft von Hamburgern, der Swing von Militärkapellen, wenn die US Air Force alljährlich zum „Tag der offenen Tür“ nach Tempelhof einlädt, erinnern ab 1950 wieder weit mehr an die zivilen Traditionen und an jene „Lust“ aufs Feld. Politiker hielten Reden, das Westberliner Milieu kreuzte auf. Man kannte sich, doch eigentlich kam man wegen der Mischung aus Volksfest und Airbase, aus Luftbrückenvergangenheit und Freedom. Diese Atmosphäre zog bis zu einer halben Million Menschen an, manchmal waren es auch mehr.
2008 wird der Flughafen geschlossen, die Zeit steht still auf dem einstigen Flugfeld. Als es am 8. Mai 2010 für die Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht wird, fremdeln die Berliner mit ihrer Lieblingsbeschäftigung: nur 100.000 Besucher zählte man anfangs im Jahr.
Das hat sich heute geändert. 2013 nutzten 1,6 Millionen Menschen das Tempelhofer Feld. 2014 werden es noch mehr sein, umgeben von Drachen, die in die Luft steigen, und Radlern, Skatern, Kite-Surfern, die über die Rollbahnen kurven. Zu zweit, in Gruppen, Alt neben Jung, beim Sport, auf der Liegewiese, beim Picknicken, zu Veranstaltungen – die Berliner genießen die Freiheit des Feldes. Ihres Feldes – des „neuen Berliner Corso“, wie Theaterintendant Matthias Lilienthal es formuliert. Es ist Berlins großer Garten der Lüste.
■ Der Text enthält Auszüge aus dem Buch des Autors: „Das Tempelhofer Feld“, L + H Verlag, Berlin 2014
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