: Erziehung zum Bild
Wie kann der Film in die Schule kommen? In seinem Essay „Kino als Kunst“ gibt der französische Filmkritiker und -vermittler Alain Bergala Aufschluss
VON STEFANIE SCHLÜTER
Er sei in seinem Leben zweimal gerettet worden – das erste Mal von der Schule, das zweite Mal vom Kino. Dem Engagement eines Lehrers habe er es zu verdanken, dass er ein Gymnasium besuchen konnte und so Zugang zu Bildung und Kultur erhielt. Dem Kino jedoch verdankt er weitaus mehr: Erst dort entwickelte er eine Liebe zu einem Gegenstand, der ihn sein ganzes Leben lang betreffen würde.
Mit dieser autobiografischen Bemerkung beginnt Alain Bergala, ehemals Redakteur der Cahiers du Cinéma, Intellektueller und selbst Filmschaffender, sein Essay zu dem auch in Deutschland viel diskutierten Thema der schulischen Filmvermittlung. Seit dem Jahr 2000 war Bergala Berater des französischen Bildungsministeriums, genauer gesagt Kinoberater in dem vom damaligen französischen Bildungsminister Jack Lang ins Leben gerufenen Programm „Les arts à l’école“ (Die Künste an der Schule).
Seine Erfahrungen im Bereich der Filmvermittlung hat er in einem Essay mit dem Titel „L’hypothèse cinéma“ veröffentlicht, der nun in deutscher Sprache vorliegt: „Kino als Kunst – Filmvermittlung an der Schule und anderswo“. Es scheint, dass Bergala seinen Gegenstand aus der eigenen Erfahrung heraus hinreichend begründet hat. Denn in seiner Biografie verbinden sich Bildung und Kino zu einer Einheit; sie haben seinem persönlichen und geistigen Werdegang eine dauerhafte Prägung verliehen.
Der Beitrag, den die ästhetische Bildung zur Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen leisten kann, wird häufig unterschätzt angesichts eines Bildungsdiskurses, der von den Pisa-Ergebnissen und der Rückbesinnung auf die Kernkompetenzen dominiert wird. Diese Entwicklung hat auch vor der klassischen Filmnation Frankreich nicht Halt gemacht: Das ursprünglich auf fünf Jahre angelegte Programm „Les arts à l’école“ wurde nach dem Regierungswechsel im Jahre 2002 rigide zusammengestrichen.
Deshalb ist es ein umso größeres Glück, dass Bergala seine wegweisenden Erfahrungen auf dem Gebiet der „Education à l’image“, der Erziehung zum Bild, zusammengetragen hat und die beiden Herausgeber Bettina Henzler und Winfried Pauleit den Text nun dem deutschen Sprachraum zugänglich gemacht haben. Denn Bergalas Essay „Kino als Kunst“ könnte dem hierzulande geführten Diskurs zur Filmvermittlung durchaus eine neue Richtung verleihen.
Während das Kino als siebte Kunst in Frankreich einen eigenständigen Status als Kultur- und Bildungsgut besitzt, ist die Filmbildung in Deutschland institutionell in die medienunabhängige Disziplin der Medienpädagogik eingebettet. Mit der Zurechnung des Films zu den Massen- und Kommunikationsmedien geht noch eine weitere Tendenz einher, die dem pädagogischen Diskurs über Film nach dem Zweiten Weltkrieg, auch durch den Einfluss der Kritischen Theorie, innewohnt: Dem Film als Medium näherte man sich vor allem in ideologiekritischer Absicht. Auch gegenwärtig verbindet sich mit dem in deutschen Rahmenplänen verankerten Begriff der „Medienkompetenz“ vor allem die Fähigkeit zur „Medienkritik“.
Demgegenüber entspricht Bergalas Haltung zum Kino der einer lebenslang gepflegten Cinéphilie. Bergala zufolge soll Schülern ein Zugang zu einer „echten Bildung“ ermöglicht werden, statt sie primär zu „kompetenten“ Zuschauern zu machen. Echte Bildung, das ist vor allem Geschmacksbildung. Durch das Vorführen anspruchsvoller Filmbeispiele und durch die Sensibilisierung der Wahrnehmung anhand von künstlerisch wertvollen Filmen bilde sich dauerhaft ein Geschmacksempfinden aus, das die Sehgewohnheiten von Jugendlichen um einige Dimensionen erweitern kann.
Zudem folgt die Filmvermittlung in Frankreich einem Impuls, der auch in Deutschland eine stärkere Berücksichtigung finden sollte: Statt im Film nur ein Illustrationsmedium beispielsweise für den Geschichtsunterricht zu sehen und beim Sprechen über Film einem „Inhaltismus“ zu verfallen, sollte vielmehr ein Zugang zur formalen Seite des Films geschaffen werden.
Die Schule sei für viele Kinder der einzige Ort, an dem eine Begegnung mit dem Kino als Kunst überhaupt stattfinden kann und daher auch stattfinden muss. Dem Lehrer kommt folglich die Rolle des Initiators oder – wie es bei Serge Daney und Alain Bergala heißt – des „passeur“ zu: Er begleitet seine Schüler im Bildungsprozess wie ein Fährmann, der die Menschen sicher von einem Ufer zum anderen bringt.
Allen künftigen Filmvermittlerinnen und Filmvermittlern bietet das Buch reichhaltige didaktische und methodische Anregungen für den analytischen Umgang mit Film und den praktischen Zugang zum Filmschaffen. Dabei geht es Bergala in erster Linie um eine Schärfung der Aufmerksamkeit und der Sinne – um eine Anstiftung zur Genauigkeit. Statt mit dem Anschauen ganzer Filme zu beginnen und dem Primat des Inhalts und des gesprochenen Wortes zu folgen, schlägt Bergala einen methodischen Zugang zur Filmanalyse vor, den er als „Pädagogik des Fragments“ bezeichnet. Dabei lässt er die kleinste filmische Einheit, die Einstellung, analysieren und auf das Ganze des Films beziehen. In Bergalas Methode wird ein Fragment im Laufe des Vermittlungsprozesses zu anderen Fragmenten, auch aus den anderen Künsten, in Beziehung gesetzt.
Durch dieses Vorgehen und durch den Vergleich verschiedener Varianten zu einem filmischen Problem lässt sich eine große Gefahr bei der schulisch vermittelten Filmanalyse bannen: die Suggestion, es gebe nur eine einzige Möglichkeit, eine Situation darzustellen oder eine bestimmte Wirkung zu erzielen.
Alain Bergala: „Kino als Kunst“. Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer. Hrsg. von Bettina Henzler und Winfried Pauleit. Schüren-Verlag, Marburg 2006. 144 Seiten, 14,90 Euro
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