: Tot, aber nicht aus der Welt
DIGITALES LEBEN Eine Mutter nimmt das Online-Profil der verstorbenen Tochter und lässt sie so weiterleben. Eine Schwester kämpft darum, dass ihre Angehörige endlich den digitalen Frieden findet. Und ein Enkel loggt sich mit Großvaters Passwörtern ein. Wie geht man mit dem virtuellen Erbe eines geliebten Menschen um?
1 Mutter und Tochter: Am 9. August 2009 stirbt die 16 Jahre alte Julienne in Willich bei Düsseldorf. Sie hinterlässt ihrer Mutter einige Passwörter. Marion Horchmer loggt sich bis heute mit dem Zugang der Tochter ins Netzwerk schülerVZ ein. Während das Zimmer der Tochter inzwischen ausgeräumt ist, möchte die Mutter nicht, dass das Online-Ich ihres Kindes gelöscht wird.
2 Zwei Schwestern: Am 29. Juni 2009 stirbt Lisa Schwarz bei einem Verkehrsunfall. Ihre Schwester Eva befremdet, dass Lisa bei studiVZ und Goolive weiterlebt und zum Beispiel Geburtstagsglückwünsche eingehen – inklusive der fröhlichen Aufforderung, eine Party zu feiern. Schon kurz nach dem Tod der Schwester beginnt Eva Schwarz daran zu arbeiten, Lisas Online-Existenz zu beenden.
3 Vater, Tochter, Enkel: Im Dezember 2009 nimmt sich Gerhard Hirschmann das Leben. Im Abschiedsbrief findet seine Tochter Anne Hahn Passwörter für Mail-Account, Homepage und soziale Netzwerke. Sie sichtet hunderte Mails. Online lernt sie neue Seiten ihres Vaters kennen. Später löscht sie seine Homepage. Ihr Sohn nutzt Zugänge seines Großvaters weiter, etwa bei Skype.
AUS WILLICH, BREMEN UND BERLIN NICOLA SCHWARZMAIER
Marion Horchmer sucht nach der Versicherungskarte ihrer Tochter, nach dem Personalausweis. Mechanisch durchwühlt sie Juliennes Handtasche. Es ist ein heißer Sommertag. Die Sonne scheint durch die Fenster des Einfamilienhauses in Willich bei Düsseldorf. Im Portemonnaie stößt Horchmer auf einen kleinen, gefalteten Zettel. Darauf hat Julienne säuberlich all ihre Online-Passwörter notiert. Für schülerVZ, Wurzelimperium, ICQ und andere Netzwerke. Die Mutter steckt den Zettel einfach ein. „Ich habe nur noch funktioniert an diesem Tag. Ich war wie aufgezogen“, sagt sie.
Marion Horchmer weiß da noch nicht, dass der Zettel zu einem Schlüssel für sie werden wird. Zu einem, den sie heute nicht mehr loslassen will. Wenige Stunden zuvor hat sie ihre sechzehnjährige Tochter tot im Bett gefunden. Als sie mittags von der Arbeit kommt, wundert sie sich, dass Julienne noch nicht auf ist. Sie geht in ihr Zimmer. Die Tochter liegt zur Wand gedreht. Als die Mutter sie an der Schulter fasst, fühlt sie sich steif an. Marion Horchmer ist Arzthelferin. Sie sieht die dunklen Flecken auf der Haut. Da weiß sie, was sie lange nicht begreifen wird: Julienne lebt nicht mehr. Sie muss in den Morgenstunden des 9. August 2010 erstickt sein. Ein epileptischer Anfall.
Am Tag darauf holt Marion Horchmer den Zettel wieder aus ihrer Tasche und setzt sich an den Familiencomputer im Arbeitszimmer. An der Wand hängt ein farbig leuchtendes Bild. Julienne hat es gemalt. Orangefarbene Herzen. „Ich hab euch lieb“, steht darauf. Horchmer ruft die pinkfarbene schülerVZ-Seite auf und tippt die Daten vom Zettel in die weißen Login-Felder. Für die Mutter ist es der erste Schritt in eine Welt, die sie vorher nie betreten hatte und die nun zu ihrer werden wird. Bis heute liegt der Zettel mit Juliennes Passwörtern neben dem Computer.
Für Juliennes Freunde ist es ein irritierender Anblick. In der realen Welt haben sie erfahren, dass Julienne seit mehr als 24 Stunden tot ist. Trotzdem erscheint sie online im Chat.
Die Mutter mit der Netz-Identität der toten Tochter
Sechs Wochen später dröhnt der Rasenmäher durchs Wohnzimmerfenster. Juliennes Oma mäht im Garten. „Muss sich beschäftigen“, sagt Marion Horchmer. Vor ihr stehen Kekse und Blumen auf dem Tisch. Sie ist täglich in Juliennes Profil. Liest die Beileidsbekundungen auf der Pinnwand. Sie ist jetzt ein Digital Immigrant, eine Einwandererin im digitalen Universum. Und irgendwie wird das Profil zu einer Verbindung mit ihrem toten Kind.
Von den Digital Natives, den jungen Leuten zwischen 14 und 29 Jahren, gehen laut einer ARD-Studie täglich mehr als 70 Prozent ins Internet. Fast genau so viele nutzen soziale Netzwerke oder Foren. Wöchentlich sterben in dieser Altersgruppe in Deutschland im Durchschnitt fast 100 Menschen. Viele hinterlassen digitale Profile. Wie geht eine Gesellschaft damit um?
Marion Horchmer hält sich in Willich an dem Profil ihrer Tochter fest. Eva Schwarz aus Bremen will am liebsten alle Spuren ihrer Schwester Lisa im Internet löschen und stößt dabei auf ungeahnte Hindernisse. Anne Hahn aus Berlin lernt ihren Vater nach dessen Freitod erst richtig kennen. Weil er ihr seine Online-Passwörter vererbt hat.
Ein Toter hinterlässt heute nicht nur einen realen Nachlass. Die Hinterbliebenen müssen sich auch mit seinem virtuellen Erbe beschäftigen. Je aufwändiger Menschen an ihrer digitalen Identität arbeiten, Online-Ichs kreieren mit privaten Fotoalben, Lieblingssonglisten und Gästebuchgrüßen von Freunden, desto mehr dieser Spuren bleiben nach ihrem Tod erhalten.
Fast zwei Milliarden Menschen nutzen das Internet. Die Datenmenge wächst Jahr für Jahr nach Schätzungen um etwa 60 Prozent. Es gibt keine digitalen Bestatter, die sich um nicht mehr aktuelle Inhalte kümmern. Alles bleibt erhalten, und sei es unter Schichten neuer Daten. Somit besitzen die meisten heute ein „unendliches Ich“, das weit verästelt im World Wide Web seine Spuren hinterlässt. Je einfacher es wird, Videos und Fotos zu veröffentlichen, desto umfangreicher werden die Nachlässe.
Das Risiko: eine Wunde, die sich nie schließt
Der Tod von Julienne ging „ratzfatz“ durchs Internet, erzählt Marion Horchmer. Nur einen Tag später wussten es alle Freunde, das halbe Dorf. Juliennes Profil wird zur digitalen Pilgerstätte, ihre schülerVZ-Pinnwand zum Kondolenzbuch.
Marion Horchmer zündet sich eine Power-Gold-Zigarette an. Sie betont jede Silbe, jedes „T“ am Ende eines Worts. Horchmer spricht gern von ihrer jüngeren Tochter, lächelt, ist bemüht, alle Fragen der Reporterin zu beantworten. Man erwartet fast, Julienne könnte jeden Augenblick die Treppe herunterkommen. Während im Netz Beileidsbekundungen formuliert werden, scheint es, als sei der Tod im Wohnzimmer der Familie noch nicht angekommen. Als solle Juliennes Profil im schülerVZ die Tochter lebendig halten.
Das Internet bildet alle Seiten des Lebens ab, auch die dunklen. In Foren helfen sich Eltern über den Verlust ihrer Kinder hinweg. Es gibt virtuelle Friedhöfe mit digitalen Kerzen, Hinterbliebene schaffen Homepages für ihre Toten. Trauer hat immer ein Ziel, sagt Thomas Multhaup, Theologe und Trauerberater: „Den Schmerz zu integrieren und anschließend mit der Narbe – aber nicht mehr mit der Wunde! – das eigene Leben weiterzuleben.“ Er kann nachvollziehen, wenn Menschen sich an den Online-Profilen ihrer Verstorbenen festhalten. Es verhindere aber, dass die Trauerarbeit zum guten Ende gebracht werde. „Wenn im Netz eine Art von Scheinwirklichkeit und Scheinleben aufrechterhalten wird, tut man sich damit auf Dauer keinen Gefallen. Niemand wird digital unsterblich.“
Wie weit aber dürfen Eltern gehen? Ist der Besuch eines schülerVZ-Profils vergleichbar mit dem Betrachten eines Fotoalbums? Oder simulieren die Veränderungen auf einem OnlineProfil ein Leben, das es nicht mehr gibt? Ein Profil mit seinen Pinnwandeinträgen und Statusmeldungen ist mehr als ein Fotoalbum. Es kann sich verselbstständigen, sich auch nach dem Tod in Erinnerung rufen. Und sei es nur durch einen Logarithmus, der jährlich die Geburtstagserinnerung versendet. Marion Horchmer ist eine Frau, die alles richtig machen möchte. Doch im Internet fehlen Regeln und Normen, an denen man sich in einem Todesfall orientieren kann.
Als sie sich in das schülerVZ-Profil ihrer Tochter eingeloggt hat, klickt Horchmer auf „Seite bearbeiten“ und dann auf „Persönliches“. Sie löscht die Angabe aus dem Feld „Beziehung“. Die Tochter hatte sich mit ihrem Freund gestritten und vor Wut ihren Status auf „solo“ gesetzt. In der Nacht vor Juliennes Tod telefonierten die beiden bis in die Morgenstunden und versöhnten sich. Marion Horchmer ist sich sicher, dass ihre Tochter den Jungen geliebt hat. Sie korrigiert den Status für ihn. Die Änderung erscheint online neben Julienne Horchmers Profilfoto.
Das Foto steht heute groß gerahmt im Wohnzimmer. Es ziert den Desktop-Hintergrund des Familienrechners. Es wurde hundertfach in Folie geschweißt und auf der Beerdigung verteilt. Statt Trauerkarten.
Das Bild entstand eine Woche vor Juliennes Tod. Julienne schaut in die Kamera, die Augen wirken ernst, doch sie lächelt. Sie hatte ihre Haare dunkler gefärbt. „Ich hab immer gesagt, dass ich Schneeweißchen und Rosenrot zu Hause habe“, sagt Marion Horchmer. Ihre ältere Tochter Jacqueline ist blond und hat leuchtend blaue Augen.
Als das Handy der toten Schwester klingelt
Bremen. An einem warmen Tag im Juli 2009 wird Eva Schwarz in ihrer Wohnung früh morgens von einem fremden Klingeln aufgeweckt. Verwirrt sucht sie ihr Zimmer ab, bis sie auf die Tasche ihrer kleinen Schwester Lisa stößt. Der Wecker ihres Handys ist angesprungen. Die 25-Jährige sieht drei neue SMS auf dem Display. Sie reißt die SIM-Karte aus dem Gerät und vernichtet sie.
Am 29. Juni 2009, einen Tag vorher, hat sich auf der B 3 der Ersatzreifen eines Lkws gelöst und Lisa frontal im Gesicht getroffen. Sie war mit dem Fahrrad neben der Bundesstraße unterwegs. Der Lastwagenfahrer bemerkt nichts. Erst Stunden später hört er über Funk von dem Unfall, untersucht seinen Wagen und sieht den fehlenden Reifen. Da ist Lisa Schwarz längst tot.
Eva Schwarz will, dass im Internet nichts mehr an die Schwester erinnert. Die Holzkreuze im Netz aber sind weniger leicht zu kontrollieren als die an der Straße. Zu Lisas 21. und 22. Geburtstag etwa trudelten Glückwünsche anderer User auf ihrer Pinnwand bei Goolive ein. Blinkende, grellgelb animierte Happy-Birthday-Schriftzüge. Aufforderungen, eine ordentliche Party zu feiern.
Im Gegensatz zu studiVZ ist Goolive eine Plattform, auf der sich Menschen oft erst kennenlernen. Für den größten Teil der Community gehört Lisa noch dazu, auch wegen der automatischen Geburtstagserinnerung.
Eva Schwarz will nicht, dass sich Menschen wie Lisas ehemaliger Freund auf der Pinnwand ihrer verstorbenen Schwester profilieren und ihren Schmerz zelebrieren. Er schreibt fast täglich auf die Pinnwand. Dass er sie besuchen und ihr „Gräbchen“ schöner machen werde. „i looooove juuuuu soooooo muuuuch mein engel. :)“ Eva Schwarz denkt, dass er das nicht für ihre Schwester, sondern für sich tut. Wenn sie sieht, wie pathetisch der Freund sein Leiden ausbreitet, fühlt sie sich, als müsste sie beweisen, wie echt ihre eigene Trauer ist, sagt sie.
Am 25. Juli 2009 um 15.23 Uhr hat sich Lisa in Evas Wohnung zum letzten Mal bei Goolive eingeloggt. Vier Tage vor ihrem Tod. Wieder einer von diesen heißen Sommertagen. Die beiden Schwestern waren bei Ikea gewesen. Sie hat keine Einträge hinterlassen, nichts hochgeladen. Vielleicht hat sie mit ihrem Freund gechattet, mit dem sie als „verheiratet“ eingetragen ist? Mit ihrer besten Freundin Jenny? Auf den Fotos bei Goolive sieht man beide zusammen herumalbern, Kussmünder ziehen, sie hatten sich aufgehübscht, bevor sie ausgehen wollten. Es ist ein typisches Bild aus einem Online-Netzwerk. Hunderttausend werden jeden Tag bei schülerVZ oder studiVZ hochgeladen. Aber dieses tut weh.
Irgendwann wird der Schmerz schwächer. Bilder, die Eva Schwarz oft gesehen hat, werden erträglicher. Nur vergessene oder unbekannte Fotos, auf die sie nicht vorbereitet ist, schnüren ihr den Hals zu.
Marion Horchmer aus Willich betrachtet deshalb bewusst keine Bilder ihrer Tochter, die sie lange nicht gesehen hat. Sie will sich dem Schockmoment, diesem blitzkurzen trügerischen Gefühl, die Tochter sei wieder lebendig, nicht aussetzen. Sie schaut auf Juliennes Profilbild. Das kennt sie. Es beruhigt.
Ein Online-Profil lebt durch seine Fotos. In den Fotoalben markieren Nutzer ihre Freunde, setzen Links mit deren Namen darauf. Das Offline-Leben soll in diesem Netz bunt und lustig wirken und aufregend. Urlaube werden dokumentiert, Errungenschaften präsentiert. Schaut her, das bin ich, das ist meine Welt, rufen all die Bilder. Und sie rufen weiter – auch wenn diese Welt längst nicht mehr existiert.
Eva verlangt, dass studiVZ die Schwester löscht
Lisa hatte sich bei Goolive angemeldet, als sie Single war. Das Netzwerk fungiert als Kontaktbörse. Gemeinsam mit ihrer Mutter durchforstete sie die Plattform nach Männern. Sie kicherte dabei. Nach einer kurzen Anmeldung konnte man Lisas komplettes Profil bei Goolive ansehen. 20 Fragen über sich hat sie ausgefüllt. Auf die vorletzte Frage „Wie wichtig sind Dir Deine Eltern und Deine Familie?“, antwortet sie: „sie sind das wichtigste was man hat … viele wissen erst was ‚familie‘ bedeutet wenn es zu spät is …“
Der Theologe Thomas Multhaup hat viel darüber nachgedacht, wie Hinterbliebene mit solchen Profilen umgehen sollten. „Was wäre der Wunsch des Verstorbenen gewesen?“, müssen sie sich fragen, findet er. Aber wie viele junge Menschen reden schon über den Tod? Beim Ausfüllen eines Profils denken die wenigsten daran, was damit geschehen soll, wenn sie nicht mehr leben. Thomas Multhaup plädiert daher für mehr Sensibilität von Seiten der Netzwerke: „Im Idealfall sollte es eine Option geben mit der Frage: ‚Wie willst du es, wenn du mal stirbst?‘ Das hat etwas mit Selbstbestimmung zu tun.“ Er sieht die Schwierigkeiten: „Natürlich ist das nicht die Frage, die ich erwarte, wenn ich mich zum Beispiel bei studiVZ anmelde.“ Aber er bleibt dabei: „Das sollte trotzdem auftauchen.“
Sobald sich Eva Schwarz bei studiVZ einloggt, lächelt ihre Schwester sie an. 39 Tage vor Lisas Geburtstag fing er an, der Countdown bei studiVZ, den eine automatische Software startet. Aber Eva will selbst entscheiden, wann sie in das Gesicht ihrer Schwester blickt.
Schon einen Tag nach dem Unfall wendet sie sich an studiVZ. Sie sei die Schwester von Lisa und bitte darum, dass das Profil sofort gelöscht werde. Prompt kommt eine Antwort: Die Löschung des Profils ihrer „Freundin Lisa“ könne nur von den Eltern beantragt werden. Wütend schreibt Eva zurück, dass es sich um ihre Schwester handle und die Löschung mit den Eltern abgesprochen sei. Keine Antwort.
Wenn Eva über ihre kleine Schwester Lisa spricht, wirkt sie ruhig. Wenig verrät die innere Anspannung. Ihre Unterlippe zittert, und auf den Wangen zeigen sich rote Flecken. Sie will mit ihrer Familie nach vorn schauen, so wie Lisa es gewollt hätte. Eva zieht an den Ärmeln ihres lila Oberteils und versucht, ihre Hände darin zu verstecken.
Digitale Fotos verblassen nicht wie Bilder im Album. Niemand weiß, was Lisa selbst gewollt hätte. Holzkreuze am Straßenrand fand sie blöd. Die Familie schloss daraus, dass sie auch digitale Erinnerungsstätten blöd finden würde.
Im Herbst 2010, mehr als ein Jahr nach Lisas Tod, löscht Goolive das Profil des Mädchens nach einer Anfrage der sonntaz. Auch studiVZ reagiert nach weiteren Nachfragen und der Zusendung von Lisas Sterbeurkunde.
Für Eva Schwarz ist damit ein Teil der Trauerarbeit um ihre Schwester abgeschlossen: „Ich habe keine Angst, dass ich das Löschen irgendwann mal bereue. Ich werde meinen Trauerprozess nicht von Internetprofilen abhängig machen, die mich zum Schluss nur noch geärgert haben, weil die Betreiber so unkooperativ waren.“
Trotzdem hat sie ein mulmiges Gefühl, als sie den letzten Befehl zum Löschen der Profile geben muss. „Da kämpft man so lange dafür, dass sich endlich was tut“, sagt sie: „Und dann passiert es so plötzlich.“
Marion Horchmer hat fast panische Angst, dass jemand das Profil von Julienne bei schülerVZ löschen könnte. Einmal schreibt ein Bekannter auf die Pinnwand, man solle das Profil melden, es sei unpassend, auf der Seite einer Toten zu landen. Horchmer löscht den Eintrag sofort. Seitdem treibt diese Sorge sie um. Sie will sich nicht an schülerVZ wenden: „Bloß keine schlafenden Hunde wecken. Am Ende speichern die das Profil nicht, und dann ist sie weg.“
Ein halbes Jahr nach Juliennes Tod räumt die Familie das Zimmer aus. Es soll zum Gästezimmer werden, der Neffe kommt zu Besuch.
Juliennes Profil bei schülerVZ bleibt online.
Im Abschiedsbrief findet sie Vaters Passwörter
Berlin. Draußen regnet es, als Anne Hahn in ihrem Buchladen drei Abschiedsbriefe aus einer Holzkiste kramt. Auf einem stehen die Passwörter ihres Vaters.
Im Dezember 2009, wenige Tage vor seinem 70. Geburtstag, setzt sich Gerhard Hirschmann in seinen Zweisitzer, fährt zu einer Bahnstrecke bei Dessau. Er trinkt eine Flasche billigen Schnaps, reißt Seiten aus seinem Notizbuch, schreibt Abschiedsbriefe. Auf dem ersten entschuldigt er sich und beteuert, dass niemand schuld sei, nur er selbst. Er wünscht seiner Tochter Anne und seinem Enkel Artur alles Gute. Auf dem zweiten vermerkt er, in welchem Autohaus die Sommerreifen für sein neues Auto gelagert sind. Mit dem dritten Zettel will er Ordnung in sein digitales Vermächtnis bringen. Er schreibt alle Passwörter und Zugangsdaten für E-Mail-Postfach, Homepage und soziale Netzwerke auf. Am Ende wird die Schrift unleserlich. Er nimmt das Abschleppseil des Autos, geht zu der kleinen Eisenbahnbrücke, die über einen Radweg führt, befestigt es dort. Dann legt er sich die Schlinge um den Hals.
Und springt.
Obwohl er 69 Jahre alt wurde, führte Gerhard Hirschmann das Leben eines Dreißigjährigen. Rollerbladen, Nordic Walking, Skypen mit Südamerika, Hilfsprojekte für Afrika, „warum verschreibt der Arzt mir kein Viagra?“. Hochzeitstermin für 2011, eigene Homepage, Facebook-Profil.
Anne Hahn hat ihren Vater erst kennengelernt, als sie mit 33 selbst ein Kind bekam. Da wurde der Wunsch nach dem leiblichen Vater groß. Dem Vater, der die Mutter mit der dreijährigen Anne sitzengelassen hat, der irgendwann bei seiner erwachsenen Tochter anrief und sagte: „Hier ist Gerhard Hirschmann, wissen Sie, wer ich bin?“
Es entwickelt sich eine innige Beziehung. Acht Jahre lang holen sie nach, was 30 Jahre gefehlt hat. Gerhard Hirschmann wird ein Opa für seinen Enkel Artur und ein Vater für seine erwachsene Tochter Anne.
In seinem letzten Jahr gibt er immer mehr Geld aus, plant neue Projekte, tippt sich durch tausende Chatrooms, bricht mit alten Freunden. Dass es zwischendurch sehr schwere Phasen gegeben haben muss, wird Anne Hahn erst hinterher bewusst. Als sich sein komplettes Leben online vor ihr entfaltet.
Warum schreibt jemand Online-Passwörter in seinen Abschiedsbrief? Anne Hahn hat sich oft gefragt, was ihr Vater damit bezweckte. Es allen so leicht wie möglich machen nach seinem Tod, denkt sie. Während sie spricht, sortiert sie Bücher in ein Regal ihrer Buchhandlung.
Das Internet ist kein Buchladen. Die Regale im Netz sind niemals voll. Auch Gerhard Hirschmanns Online-Ich lebt weiter. Durch seinen Enkel Artur.
Mit Opas Zugang im WWW unterwegs
Artur ist zwölf. Der Tod seines Opas hat ihm dessen Computer beschert. Manche Hürden kann er jetzt überspringen. Eigentlich darf er in seinem Alter noch keinen eigenen YouTube-Account haben. „Mama, ich habe jetzt ein YouTube-Konto – das von Opa!“, ruft er eines Tages durch die Berliner Altbauwohnung. Kaum eine populäre Seite findet er, auf der der Großvater nicht Mitglied war und Usernamen und Passwort gespeichert hatte.
Wenn Artur skypen will, heißt er dort Webbyskype. Das findet er blöd. Er will nicht wie Opa heißen! Anne Hahn weiß nicht auf Anhieb, wie man auf einem Rechner ein anderes Skype-Konto anmeldet. Also ändert sie mühsam die E-Mail-Adresse von Webbyskype in die ihres Sohns und bittet ihn, den Skype-Namen weiter zu verwenden. Inklusive all der internationalen Kontakte, die Gerhard Hirschmann dort gepflegt hat.
Auch für Anne Hahn sind vergessene, bisher ungesehene Fotos die schlimmsten. Wenn Artur auf einen unentdeckten Ordner im Computer stößt oder ein weiteres Online-Profil, wird der Verlust wieder spürbar, der Vater für einen Moment wieder lebendig.
Im Februar 2011, anderthalb Jahre nach Lisa Schwarz’ Tod, findet ihre Schwester Eva zufällig ein Video auf einer alten Speicherkarte. „Es hat mich total erschreckt, sie so …“, Eva sucht nach Worten, „… lebendig zu sehen, aus Fleisch und Blut.“ Gleichzeitig ist sie dankbar für die Erinnerung. Mittlerweile hat sie Angst, sie könnte die Stimme oder das Lachen ihrer Schwester vergessen. „Jetzt kann ich mich dank des Videos daran erinnern“, sagt sie. Dass Lisas Videosätze und Lisas Videolachen die eigenen Erinnerungen überlagern könnten, fürchtet sie nicht.
Anne Hahn hat die Homepage ihres Vaters im Frühling 2010 löschen lassen. In seinen Facebook-Account kann sie sich nicht einloggen, das Passwort vom Abschiedsbrief passt nicht. Sie versucht, den Account von den Verantwortlichen löschen zu lassen – bis heute ohne Erfolg. Manchmal fragt sie sich, in welchen Chatforen er noch unterwegs war, dann wieder ist sie froh, dass sie nicht alle Passwörter und Seiten kennt.
Es war genug Arbeit, sich durch 800 E-Mails zu klicken, die in seinem Posteingang lagen. Welche Verpflichtungen hatte der Vater? Freunde aus aller Welt schreiben. Auf Englisch, Französisch oder Esperanto. Anne versucht, so gut es geht, zu antworten. Doch sie grenzt sich auch ab.
Einem Patenkind, das sich Gerhard Hirschmann in Benin gesucht hatte, schickt sie kein Geld mehr. „Ich habe ein eigenes Patenkind in Afrika. Aber mit einer Organisation. Er musste alles alleine machen. Das kann viel Missgunst säen“, sagt sie.
Trotzdem tut es weh, das Foto des Kindes zu sehen, das sie aus der Holzkiste zieht. Die Eltern haben den Jungen aus Dankbarkeit Gerhard genannt. Gerhard Hounsounou.
Willich. Marion Horchmer sitzt vor dem Laptop ihrer Tochter. Ihre Hände fahren über die Tastatur. Sie klickt sich durch Chaträume, Gruppenseiten und Profile. Julienne beim Fußball, Fratzen schneidend mit Freundinnen. Spitzname: „Uschiiii …“. Hassfach: „Mathe“.
Auch ein halbes Jahr nach dem Tod zieht es Marion Horchmer immer wieder in die schülerVZ-Welt, in der ihre Tochter noch existiert. Einmal sei sie unsicher geworden, sagt sie. Da schickte eine von Juliennes Freundinnen eine digitale Einladung, dass sie doch der Gruppe „Ruhe in Frieden, Julienne!!“ beitreten solle. Die Tote in ihrer eigenen Trauergruppe? Oder vielmehr: Eine Mutter mit dem Profil ihrer toten Tochter in der Trauergruppe für die Tochter. Sie zieht an ihrer Zigarette. Ja, gezögert habe sie.
Dann sei sie beigetreten.
Die Einträge der Freunde auf Juliennes Profil werden weniger. Über die orangefarbenen Herzen an der Wand hat die Familie das Profilbild Juliennes gehängt.
Anne Hahn googelt den Vater regelmäßig. Um zu schauen, „ob es etwas Neues gibt“. Sie hat auf das eigene Facebook-Profil ein Foto des Vaters geladen, eines der Bilder, die nicht mehr wehtun.
Eva Schwarz hat Screenshots von Lisas Online-Profilen gemacht. Ganz löschen will sie die Schwester nicht.
Marion Horchmer loggt sich weiterhin in Juliennes schülerVZ-Account ein. Jeden Tag.
■ Nicola Schwarzmaier, 28, freie Autorin, hat zum Thema ihre Master-Arbeit im Studiengang Kulturjournalismus an der Universität der Künste Berlin geschrieben
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