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Geiselnehmer vor Gericht

■  Sechs Stunden lang hatte ein Mann einen dreijährigen Jungen im U-Bahnhof in seiner Gewalt. Der Täter ist offenbar psychisch gestört und strafrechtlich nicht belangbar

Nicht nur bei der Mutter des dreijährigen Franz lagen die Nerven blank. Auch für die ansonsten so hartgesottenen Beamten des polizeilichen Sondereinsatzkommandos (SEK) war die sechsstündige Geiselnahme des Jungen am 26. Oktober des vergangenen Jahres im U-Bahnhof Kottbusser Tor eine extreme Situation.

„Etwas dermaßen Gefährliches für ein Kind habe ich in meiner 14jährigen Dienstzeit beim SEK noch nicht erlebt“, sagte gestern der 40jährige Beamte L. Mit Maschinenpistolen bewaffnete Präzisionssschützen, so L. weiter, hätten den Geiselnehmer stundenlang durch ihre Zielfernrohre im Visier gehabt. „Die Situation war so zugespitzt, daß wir entweder mit dem Ableben des Kindes oder des Täters rechnen mußten.“ Dem besonnenen Verhalten der Beamten ist es zu verdanken, daß Kind und Täter überlebt haben.

Gestern begann der Prozeß gegen den 26jährigen Geiselnehmer aus Algerien. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, daß der offenbar geistig gestörte Mann nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann und deshalb in der Psychiatrie untergebracht werden muß. Der abgelehnte Asylbewerber saß gestern regungslos auf der Anklagebank, während ein Dolmetscher mit leisen Worten übersetzte. Nach einer Odyssee durch halb Westeuropa hatte er sich erst einen Monat in Deutschland befunden, als die Tat geschah. „Ich kann mich an absolut nichts erinnern“, sagte er gestern nur.

Es geschah gegen 11.40 Uhr auf dem U-Bahnhof Kottbusser Tor. Wie die 35jährige Mutter gestern berichtete, war ihr Sohn ein Stück vorausgelaufen, als er von einem fremden Mann mit tief ins Gesicht gezogener Mütze hochgehoben wurde. Erst habe sie gedacht, der Mann meine es freundlich, doch dann habe er das Kind mit einem langen Küchenmesser bedroht. Die Mutter flehte den Mann auf Knien an, das Kind herauszugeben. Vergeblich. Zusammen mit dem Dreijährigen verschanzte er sich sechs Stunden lang im Bahnhofsbereich, bis er schließlich in einem unachtsamen Moment von einem SEK-Beamten mit einem Tritt gegen den Kopf ausgeschaltet werden konnte.

Zwei psychologisch geschulte Polizisten und ein Dolmetscher hatten zuvor versucht, auf den Täter einzuwirken, der widersprüchliche und zum Teil unerfüllbare Forderungen gestellt hatte. Einmal verlangte er ein Flugticket in seine Heimat, das andere Mal wollte er einen in Algerien inhaftierten Führer der islamischen Algerischen Heilsfront sprechen. Nachdem mehrere von dem Algerier gestellte Ultimaten abgelaufen waren, schnellte der SEK-Beamte L. just in dem Moment vor, als der Geiselnehmer das Küchenmesser von einer Hand in die andere Hand wechseln wollte.

Der kleine Junge habe sich die ganze Zeit „phantastisch verhalten“, sagte L. Nach Angaben der Mutter hat das Kind die Ereignisse den Umständen entsprechend gut verarbeitet. Wenn Franz die Polizei oder die Feuerwehr sehe, rede er häufig über die Geschehnisse im vergangenen Oktober. „Böser Mann hat mich festgehalten, Polizei hat mich rausgeholt, Krankenhaus hat mich gesund gemacht“, sage er dann.

Seit der Geiselnahme dringen Polizei und CDU auf eine gesetzliche Regelung des sogenannten finalen Rettungsschusses im Polizeigesetz. Bündnisgrüne und PDS dagegen halten die bestehende Regelung für ausreichend. Auch die SPD ist eher ablehnend, hat sich aber noch nicht definitiv entschieden. Der Prozeß wird am kommenden Dienstag fortgesetzt. Plutonia Plarre

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