: Grüne: 30 atomare Jahre sind zu viel
■ 11 von 15 grünen Landesverbänden fordern die grünen Bundesminister auf, die AKWs schneller stillzulegen. Rechtsprofessor Erhard Denninger hält dreijährige Übergangsfrist zugunsten der Atomindustrie für unnötig
Berlin (taz) – Der großen Mehrheit der Grünen dauert der Atomausstieg zu lange. 11 von 15 Landesverbänden finden die Laufzeit von „30 Jahren pro Atomkraftwerk enttäuschend“, sagte gestern Regina Michalik, die Vorsitzende der Berliner Grünen. Die 30 Jahre hatten Umweltminister Jürgen Trittin und Außenminister Joschka Fischer (beide Grüne) den Landesvorständen der Partei am Montagabend als Kompromiss innerhalb der Bundesregierung unterbreitet. „Die Minister wurden aufgefordert nachzuverhandeln“, so Michalik. Ob sie das tun, ist offen.
Von 16 Landesvorständen waren 15 in Berlin erschienen. Unter anderem Baden-Württemberg und Hamburg hielten den Minister-Kompromiss für tragbar. Die 11 kritischen Landesverbände bemängelten das gesamte Verhandlungspaket. Darin enthalten ist nicht nur die 30-jährige Laufzeit pro AKW, sondern auch eine dreijährige Übergangsfrist bis zur Stilllegung der ältesten Anlagen. Würden Laufzeit und Übergangsfrist in ein Ausstiegsgesetz gegossen, würde bis zur nächsten Bundestagswahl möglicherweise kein Kraftwerk vom Netz gehen – eine Niederlage für die Grünen.
Besonders an der langen Übergangsfrist entzündete sich die Kritik der Vorstände aus den Bundesländern. Die bayerischen Grünen fordern eine Frist von zweieinhalb Jahren oder weniger. Damit könnten die beiden ältesten Atomkraftwerke Obrigheim und Stade (bisherige Laufzeit: 31 und 27 Jahre) knapp vor der Bundestagswahl 2002 abgeschaltet werden.
Die grünen Minister haben den Kompromissvorschlag aus zwei Gründen gemacht: Erstens meinen sie, dass gegen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) mehr nicht durchsetzbar ist. Zweitens könne die Atomindustrie das Ausstiegsgesetz umso schwerer vor dem Bundesverfassungsgericht zu Fall bringen, je länger die Laufzeiten und Fristen seien.
Dagegen hält der Frankfurter Rechtsprofessor Erhard Denninger, den Trittin mit einem Gutachten zum Ausstieg beauftragt hat, kürzere Laufzeiten und Fristen durchaus für möglich. Denninger hat für die ältesten Atomkraftwerke eine „Abwicklungsfrist“ von ein bis drei Jahren vorgeschlagen. Der Jurist betont, dass die Anlagen in dieser Zeit nicht einfach weiter normal Strom liefern dürften, sondern nach und nach stillgelegt werden müssten. Die Abwicklungsfrist, so Denninger, solle zum Beispiel dazu dienen, die Arbeitsplätze sozialverträglich auslaufen zu lassen und die Brennelemente sicher zu lagern. Das juristische Argument, die Atomindustrie habe einen Anspruch auf „Vertrauensschutz“, weshalb man die Abschaltung der Anlagen nicht von heute auf morgen verordnen könne, ist Denninger zufolge nicht relevant. Der Frankfurter Professor für Öffentliches Recht sagt, dass bei der von ihm vorgeschlagenen Laufzeit der AKWs von „ca. 25 bis 26 Jahren“ die Industrie schon ausreichenden Vertrauensschutz für ihre Investition genösse. „30 Jahre sind eine Zugabe“ zugunsten der Industrie, so Denninger.
Der Jurist kommt auf 25 bis 26 Jahre, weil die Anlagen in dieser Zeit ihre Kosten hereingeholt und den Betreibern Gewinne eingespielt hätten. Denninger hält seine Jahreszahl für juristisch sicher, will aber nicht ausschließen, dass die RichterInnen des Bundesverfassungsgerichtes zu einer anderen Auffassung kämen. Das hänge unter anderem von den zugrunde gelegten Parametern ab, wie der wirtschaftlich sinnvollen Lebensdauer eines AKWs.
Auch Christian Ströbele, Rechtsanwalt und grüner Bundestagsabgeordneter, hält das Argument des Vertrauensschutzes zur Hinauszögerung des Ausstiegs für falsch. Spätestens seit dem Sieg der Rot-Grünen bei der Bundestagswahl 1998 müsse den Atombetreibern klar sein, das die Tage ihrer Anlagen gezählt seien. Juristisch beginne die Auslauffrist – egal wie lange sie dauere – deshalb im Oktober 1998, so Ströbele.
Unterdessen kündigte der Berliner Landtagsabgeordnete Hartwig Berger, der bundesweit die grünen Energiepolitiker vertritt, „Blockaden auf der Straße gegen jeden Castor-Transport“ an, sollte der 30-Jahres-Kompromiss durchkommen. Hannes Koch ‚/B‘Lesetipp: Anna Masuch (Hrsg.): „Atomkraftwerke – Unsicher und grundrechtswidrig“. Hannover 1998. Zu beziehen über Bürgerinitiative Umweltschutz, Tel. (05 11) 44 33 03
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