: Das Totem-Tier Kohl und die Schröder-Sippe
■ Totem und Tabu: Das Bild vom Altkanzler ist zerstört. Die Frage nach der politischen Kulturstiftung in Deutschland muss nun ganz neu gestellt werden. Happy Totemism!
Am Abend des 27. September vergangenen Jahres erklärt ein großer, stattlicher Mann, dass er die Wahl verloren hat: Helmut Kohl. Ein anderer Mann, deutlich jünger, deutlich kleiner, war der Gewinner. Gerhard Schröder spricht schöne, bewundernde Worte für den Kanzler der Einheit. Und doch fand an diesem Abend ein Gewaltakt statt.
Hinter dem demokratischen Verfahren der Bundestagswahl verbarg sich ein klassischer Vatermord, wie Sigmund Freud ihn in seiner Abhandlung „Totem und Tabu“ beschrieben hat: eine Reaktion auf die Herrschaft eines „gewalttätigen, eifersüchtigen Vaters“ über die Urhorde. Seine Kritiker hatten Helmut Kohl sechzehn Jahre lang als genau solch einen „überstarken Vater“ gezeichnet. Man hasst ihn, aber man liebt ihn auch: Das ist die „Ambivalenz des Vaterkonfliktes“.
Deutschland nach dem Regierungswechsel: Die vaterlose politische Sippe Schröder lebt diese Ambivalenzen voll aus. Die roten und grünen Minister – Protagonisten der 80er-Jahre, Kohl-Söhne allesamt – zeigen, dass sie es auch können, nur besser als Papa: Krieg führen, Machtwörter sprechen, Personalfragen lösen.
Aber darüber muss man sich nicht aufregen. Freud sah im Vatermord eine Kultur stiftende Tat, den Anfang des Totemismus. Nach der Tat projiziert die Urhorde ihre ambivalenten Gefühlsregungen auf ein Tier, das sie verehrten und gleichzeitig verachteten. Und so machte die Sippe Schröder das Bild des „Altkanzlers Helmut Kohl“ zu ihrem Totem-Tier: Ritualhaft wurde immer wieder auf die „historische Größe“ hingewiesen, genauso ritualhaft trat man immer wieder kräftig gegen das „System Kohl“. Kohl spielte mit. Er enthielt sich der Öffentlichkeit weitgehend. Er blieb abwesend anwesend, Denkmal, stilles Zeichen: eine politische Kulturstiftung nach den Regeln von Totem und Tabu.
Dann kam es zu Störungen. Der Totemismus regelt auch den Umgang der triumphierenden Brüder miteinander: im „sozial begründeten Verbot des Brudermordes“. Darüber setzte man sich in der Sippe Schröder als erstes hinweg: Lafontaine verließ die Regierung, weil er neben dem neuen Kanzler keinen Platz fand, und versuchte den literarischen Brudermord mit einer Rechtfertigungs- und Racheschrift. Dann drohte plötzlich auch die Kriegskoalition zwischen Schröder, Scharping und Fischer zu brechen: Nach einem Streit über eine Waffenlieferung begann der Verteidigungsminister gegen Kanzler und Regierungsbündnis zu sticheln.
Die Sippe droht zu zerfallen, jetzt hofft man auf die reinigende Kraft des Festes: Der Vatermord muss rituell noch einmal durchlebt werden. Schön, dass man einen Anlass hat. Helmut Kohl soll bis in die Schlussphase seiner Amtszeit mit inoffiziellen Konten gearbeitet haben. Ausgemachte Parteifreunde Kohls gehen auf Distanz, gestern hat Kohl öffentlich auf einer Pressekonferenz gebeichtet, und die Medien demontieren das Bild des Altkanzlers: Die Sippe Schröder nimmt sich ihr Totem mal so richtig vor, tötet es, und – schlag nach bei Freud – „verzehrt es roh“. Happy Totemism! Es hätte ein schönes Fest werden können. Nur ein einziges, klitzekleines Problem gibt es. Der Vater ist nicht tot, der Vater lebt. Nach seinem nach altbekannter Art patriarchalen Auftritt vor dem Bundestag ist klar, dass Helmut Kohl nicht länger mitspielt. Aus der abwesenden Anwesenheit ist wieder reale Präsenz geworden: Kohl ist Kohl, und kein Teddybär-Totem, den man nach Belieben umarmen, streicheln, treten oder schlachten kann. Das ist die Rache des Untoten: Das System des Kohl-Totemismus, das Rot-Grün seit einem Jahr und zwei Monaten aufrechtzuerhalten versucht, ist in sich zusammengefallen. Es sieht schlecht aus.
Erst einmal. Vergangene Woche reiste Gerhard Schröder mit einem Koffer voller Geld nach Frankfurt und rettete den bankrotten Baukonzern Philipp Holzmann. Auch das war ein Fest, noch dazu von alttestmentarischer Größe: Die Menschen sangen Lieder und feierten den Geldkoffer, das Goldenen Kalb der neuen Mitte, das über ihnen schwebte. Kohl lebt. Aber ab jetzt wird ohne ihn gefeiert. Happy Totemism! Kolja Mensing
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