: Idylle mit Besamungsbügel
Ein Ausflug auf das Land: schockierend, wie so ein Öko-Kalb lebt DAS SCHLAGLOCH von HILAL SEZGIN
Der Kuckuck ruft. Tau sitzt auf den Blütenblättern. Im Osten steht die Sonne halbhoch überm frischen, grünen Buchenwald. Lasst uns einen Ausflug machen! Weil wir neugierig sind, wo Brot und Kartoffeln herkommen, und weil wir den Anblick von Tieren suchen, deren Mäuler malmend über die Wiesen streifen. Der gute alte Bauernhof, den wir nur noch durch Schleichfiguren und Wimmelbilder kennen: Heute werden wir ihn besuchen. Natürlich einen mit Bio-Siegel, weil dort die Schweine fröhlich grunzen und die Kühe glücklich sind. – Na, Sie ahnen sicher schon, was jetzt kommt …
Wussten Sie aber, dass das Fleisch von jungen Schweinen einen unangenehmen Geschmack erhält, sobald der Eber geschlechtsreif wird? Eigentlich nicht schwer, sich das vorzustellen. In der ersten Lebenswoche wird daher das männliche Ferkel kastriert, ohne Betäubung: der Hoden aufgeschnitten, dessen Inhalt herausgepresst und abgeschnitten, das Tier ohne Desinfektion und Zunähen zurück in den Stall gesetzt. (Sachlich und anschaulich informiert dazu die Internetseite www.tierschutz-landwirtschaft.de/html/kastration.html.)
Falls es nicht nur eins, sondern viele Ferkel sind: Im 314 Seiten umfassenden Katalog der renommierten Firma Siepman, die von Weidezäunen und Deckschürzen bis zu Viehschussapparaten, Durchfallstoppern im 10-Kilo-Eimer, „Anti-Aggressions-Spray für die Schweine- und Geflügelhaltung“ und Multiknochenpressen so ungefähr alles für den landwirtschaftlichen Bedarf verkauft, wird auch ein Kastrationsgerät angeboten. Es ist „patentamtlich geschützt“ und ermöglicht ein „sehr schnelles Ein- und Auslegen der Ferkel, dadurch zeitsparend“ zum Preis von 89,95 Euro. „Durch die senkrechte Lage des Ferkels ist die Verletzung des Darmes ausgeschlossen und das Tier verhält sich sehr ruhig.“ Ruhig heißt hier wohl, dass der Besitzer den Eingriff ungehindert vornehmen kann. Das Ferkel selbst wird danach noch einige Zeit zittern und sich aus Schmerz und Aufregung nicht selten auch übergeben (das steht nicht im Katalog).
Übrigens gibt es auch „Schwimmwesten für Ferkel“, falls das neugeborene Tier unter Unterkühlung leidet; sehr niedlich sieht das Ferkel auf dem Foto aus, sein kleiner rosa Kopf, umgeben von der gelben Freischwimmerkrause. Überhaupt sind sämtliche der Ausschmückung dienenden Illustrationen in diesem Katalog ungeheuer ansprechend – wohingegen die eher der Information zugedachten Bilder rapide an Anmut verlieren. Denn, nein, Sie wollen eben NICHT genau wissen, was eine Multiknochenpresse ist oder wie sich Ferkel überhaupt eine Unterkühlung einfangen, und, ja, ich wünschte mir WIRKLICH, ich hätte den „Besamungsbügel, komplett mit Klammer für Samenbeutel“ nicht gesehen. Es informiert die bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft: „Historisch gesehen, hat die künstliche Besamung beim Schwein seit Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts den Natursprung verdrängt.“ Derzeit gebe es in Deutschland 24 Schweinebesamungsorganisationen, mit dem „Ziel, alle Ferkelerzeuger ihres Einzugsgebietes mit Sperma zu versorgen“.
Es gibt in Deutschland kein Gesetz, das es Menschen verbieten würde, Eber um ihr Sperma zu erleichtern. Das tun sie (die geizigen Menschen) offenbar lieber, als den Schweinen angemessenen Lebensraum zu bieten, damit sie (die Schweine) es ohne den Einsatz von Anti-Aggressions-Sprays miteinander aushalten und die Sache mit dem Sex so klären können, wie es unter Schweinen üblich ist.
Allerdings: Selbst wenn es ein Gesetz gegen die Masturbation von Schweinen gäbe, wäre derselbe Paragraf sicher um eines dieser „außer wenn“ ergänzt, von denen es in unserer „Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung“ nur so wimmelt. Nach „außer wenn“ kommen Zusatzbestimmungen, wie dass ein Betrieb zu klein ist, zu groß ist, sich gerade in der Umstellung befindet, praktische Erfordernisse das Verbotene doch nötig machen oder etwas traditionelleren Haltungsmethoden entspricht. Sogar im Öko-Landbau, der also das Bio-Siegel verdient, ist das „traditionelle Produktionsverfahren“ ein Argument …
Und damit komme ich auf unseren Ausflug zum Bio-Bauernhof zurück. Wir wollten die glückliche Kuh sehen, das Kalb, das Ferkel. Also zwei Kälber waren schon mal da, standen in ihren Einzelboxen auf dem Hof. Sind angeblich seit zwei Wochen da drin und sollen noch weitere vier Wochen in Ruhe fressen und wachsen. Was irgendwie merkwürdig ist, denn laut den „Grundregeln des ökologischen Landbaus für Agrarbetriebe“ ist eigentlich „Die Kälberhaltung in Einzelboxen … untersagt, wenn die Tiere älter als eine Woche sind“ – vielleicht auch wieder so ein „außer wenn“. Jedenfalls misst die Kälberhütte 145 x 122 x 135 Zentimeter, in anderen Worten: Das Kalb passt rein. Dazu ein Auslaufgitter von derselben Größe: Das Kalb kann auch draußen stehen. Wenn es ihm draußen zu langweilig wird, kann es ja wieder hineingehen. „Komfort und Wohlbefinden der Tiere“ sind laut Gesetz durch eine „genügend große Stallfläche“ zu gewährleisten, die „natürliches Stehen, bequemes Abliegen, Umdrehen, Putzen, das Einnehmen aller natürlichen Stellungen“ ermöglicht.
Wenn man sich fragt, wo die Mutter des Kalbs ist: berufstätig. Arbeitet als Milchkuh. Die Milch ist natürlich für den Menschen bestimmt, nicht für das Kalb. Aber unsere Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung sorgt dafür, dass auch das Kalb nicht zu kurz kommt: „Wer Kälber hält, hat … sicherzustellen, dass … für Kälber bis zu einem Gewicht von 70 Kilogramm der Eisengehalt der Milchaustauschertränke mindestens 30 Milligramm je Kilogramm, bezogen auf einen Trockensubstanzgehalt von 88 Prozent beträgt …“ und außerdem „jedes Kalb täglich mindestens zweimal gefüttert wird, dabei ist dafür Sorge zu tragen, dass dem Saugbedürfnis der Kälber ausreichend Rechnung getragen wird“.
Bevor ich zum Bio-Bauernhof fuhr, hatte ich mir ausgemalt, dass Bio-Kälber direkt von ihren Müttern saugen können. Kommt offenbar ganz auf die Kulanz des jeweiligen Bauern an. Und in den „Grundregeln des ökologischen Landbaus“ habe ich nichts Offizielles dazu gefunden. Dafür aber eine Passage zum Thema Ferkelkastration: „Die physische Kastration ist zur Qualitätssicherung und zur Erhaltung der traditionellen Produktionsverfahren … gestattet.“ Betäubung wird nicht vorgeschrieben und ist auch nicht üblich, weil damit ja die Fleischqualität beeinträchtigt wird.
Natürlich will ich keineswegs dagegen plädieren, Produkte mit dem Bio-Siegel zu kaufen, ganz im Gegenteil! Aus all den weichen Solls der offiziellen, noch viel zu zaghaft tierschützerischen Regelwerke lässt sich ja ersehen, was in konventionellen Betrieben Usus ist. Ich plädiere vielmehr für strengere Regeln und für – Ausflüge. Schweine gucken? Prima! Kälbchen streicheln? Super! Schockierend, wie so ein Öko-Tier lebt, und schockierend das Wissen: An ein herkömmliches Massen-Stall-Tier käme man nicht einmal so nah dran.
Hilal Sezgin lebt als freie Publizistin in Barnsted.
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