: Im Hier und Jetzt im Zoo
TIERSCHAU Der Autor Mathias Gatza hat eine Dauerkarte für den Berliner Zoo. Im Schatten der Tiere fand er zu sich und die Ideen zu seinem preisgekrönten Debütroman. Ein Gang auf seinem „manischen Weg“
■ Berliner Zoo: Knut ist tot. Berlin trauert um den neurotischen Eisbären. Der weltberühmte Werbeträger des Berliner Zoos erregte die Gemüter stärker als Krieg in Libyen und Atomkatastrophe in Japan – das zeigen zumindest die Klickzahlen im Netz. Der Berliner Zoo ist der älteste zoologische Garten in Deutschland. 2010 zählte er knapp drei Millionen Besucher. Im Schnitt bleibt jeder Gast rund zwei bis drei Stunden, um die insgesamt 17.133 Tiere in den Gehegen und im Aquarium zu sehen. www.zoo-berlin.de
■ Zoo-Geschichte: Das Halten exotischer Tiere hat eine lange Tradition und begann in Adelskreisen. Schon 2000 v. Chr. schmückte sich der Kaiserhof Chinas mit wilden, aber auch putzigen Tieren. In Europa ließ Heinrich III. von England im 13. Jahrhundert die königliche Menagerie im Tower von London errichten. Menagerien galten als die Vorläufer heutiger Zoos. Der erste seiner Art war der Tiergarten Schönbrunn bei Wien, den Kaiser Franz Stefan I. und seine Gemahlin Maria Theresia 1752 errichten ließen. In Deutschland eröffneten die ersten Zoos im 19. Jahrhundert, inzwischen gibt es hierzulande mehr als 700 (einschließlich Tierparks).
■ Zoom Gelsenkirchen bietet unter anderem eine Ferienwoche im Zoo vom 18. bis 21. April 2011 für Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren und Schnupperkurse als Tierpfleger an. www.zoom-erlebniswelt.de
■ Der Leipziger Zoo eröffnet Mitte Juli 2011 das sogenannte Gondwanaland: eine riesige Tropenhalle, in der 16.000 Exemplare von 500 verschiedenen Pflanzenarten angesiedelt werden: Bambus aus Asien, Palmen aus Afrika, Aufsitzerpflanzen (Bromelien) aus Südafrika. www.zoo-leipzig.de
■ Im Dresdener Zoo gibt es Nacht- und Abendführungen, bei denen Besucher nachtaktive Tiere beobachten können, wie etwa Schneehasen, Sperbereulen, Eisfüchse und Gleithörnchen. www.zooerlebnis-dresden.de
■ In Hamburg wurde einen Affensprung vom Tierpark Hagenbeck (www.hagenbeck.de) entfernt das erste Tierpark-Themen-Hotel der Welt errichtet. In der Lobby stehen Schätze aus der Kolonialzeit wie ein hölzernes Krokodil, in dessen Rumpf Indonesier früher Reis gestampft haben, und mit dem Aufzug fährt der Gast nach Afrika oder Asien: jede Etage greift die Tier- und Designwelt eines fremden Kontinents auf. www.lindner.de
VON TOMAS NIEDERBERGHAUS (TEXT) UND CYRUS SAEDI (FOTOS)
Sonntagmorgen, fünf vor neun. Mathias Gatza wartet bereits am Haupteingang des Berliner Zoos. Er trägt einen blauen Mantel und eine schwarze Designerbrille. „Ich bin zuverlässig und werde da sein“, hatte er in einer Mail geschrieben und dass er nicht über ein Handy zu erreichen sei. Das Handy steht in einer Kette von Gegenständen und Menschen, von denen sich Mathias Gatza im Laufe der Jahre verabschiedet hat. Von seinem eigenen Verlag. Von seiner Arbeit als Lektor beim Berlin Verlag und Programmleiter bei Suhrkamp. Von Autoren. Von seiner zwanzigjährigen Ehe. Von Alkoholexzessen. Nicht verabschiedet hat er sich von seiner Dauerkarte für den Zoo. Jahrelang ist er täglich hierher gekommen, hat täglich den gleichen Weg genommen, sich auf die gleiche Bank gesetzt, den Tieren ins Gesicht gesehen. Es war auch die Dauerkarte, die ihm sein literarisches Debüt beschert hat: „Der Schatten der Tiere“. Ein fesselnder Psychothriller, der den Leser in eine Welt der Liebe, der Süchte und Sehnsüchte, der Mathematik und natürlich der Tiere und Menschen im Zoo entführt. Das Buch hat ihm den Bremer Literaturpreis eingebracht.
Jetzt wird mir Mathias Gatza seinen Weg durch den Zoo zeigen, den er „manischen Weg“ nennt. Er wird mich dabei seinen Bekannten vorstellen, den Gorillas, dem Eberschwein und vielleicht auch den Zwergottern. Wir passieren das Haupttor. Es ist totenstill, kein Raunzen, kein Gurren, kein Zwitschern.
Mathias Gatza zuppelt sich am Mantelkragen, eine verlegene Geste des Schutzes gegen die eisige Kälte. Minusgrade, Sonne, Ostpreußenwind. „Das Wetter müsste Ihnen doch gefallen. ‚Der Winter ist im Zoo meine Lieblingsjahreszeit‘, heißt es in Ihrem Roman. Was treibt Sie eigentlich seit Jahren hierher?“
„Dieser Zoo ist für mich Meditation. Hier entfliehe ich dem Alltag und gehe meinen Gedanken nach. Im Zoo macht man unverstandene Tiefenerfahrungen. Es ist erschütternd, sich gegenüber den Tieren zu positionieren.“
„Können Sie ein Beispiel geben?“
„Ich war schon als Kind mit meiner Mutter oft hier. Wenn man mich anschließend zu Hause fragte, wie groß ein Elefant ist, dann hob ich die Hand bis zur Höhe meines Kopfes. Irgendwann fuhren wir wieder zum Zoo. Wir saßen oben im Doppeldeckerbus und konnten schon von dort die Elefanten sehen. Obwohl ich sie schon hundertmal gesehen hatte, kamen sie mir plötzlich riesig vor. Ich glaubte, es seien Skulpturen, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie so massiv sind. Ich war schockiert, weinte. Es war meine erste Metamorphose der Wahrnehmung.“
Von weitem ist nun das Indische Tor zu sehen, das von zwei Elefanten aus dunkelgrauem Stein getragen wird. Mathias Gatzas erzählt von den Anfängen des Zoos, ein Geschenk von Friedrich Wilhelm IV. im Jahre 1844 an die Stadt Berlin. Millionen von Menschen kamen, um hier nicht nur Tiere zu sehen, sondern auch Afrikaner, die man nackt zur Schau stellte. Dahinter, sagt Mathias Gatza, habe auch ein starkes sexuelles Interesse gestanden. Interessanterweise seien die Menschenschauen von den Nationalsozialisten verboten worden – die Vorstellung vom arischen, mitleidlosen Übermenschen sei wohl nicht vereinbar gewesen mit dem Sehen und Begehren des ausgestellten Afrikaners.
Eine ältere Dame, eingemummelt in Schal und Fellmütze, kommt uns entgegen, Gatza blickt rüber, als würde er die Fellmütze kennen. Jetzt liegt die Frage nahe, ihn nach anderen Dauergästen zu fragen, schließlich gibt es in seinem Buch den Ich-Erzähler, der sich regelmäßig mit einem Mann namens Braun im Zoo getroffen hat, ein Mathematiker und Trinker, der in Norwegen tot aufgefunden wird, übel zugerichtet. So beginnt die Geschichte.
Jeden Tag, sagt Mathias Gatza, habe er über Jahre die gleichen Dauergäste gesehen, ungefähr zehn, er habe jedoch nie mit einem gesprochen. Und während er das erzählt, schießt er plötzlich vor zu einem Freigehege aus Steinen und Wasser und sagt: „Die mag ich sehr.“ Vor uns bauen sich Zwergotter auf, stehen auf den Hinterbeinen. Drei sind es, jetzt vier, und dann kommt noch einer. Für einen Augenblick könnte man meinen, dass sich das Zoo-Prinzip umkehrt. Neugierig mustern sie uns. „Vor einigen Jahren“, sagt Gatza, „gab es hier ein Junges, das täglich mit mir Blickkontakt aufnahm und vor mir mit den Steinen spielte.“ Was er absurd finde, sei, dass man Tieren ein Zeitempfinden abspreche und dass sich die Wissenschaft hinter solchen Thesen verstecke, um ihnen die Todesangst abzusprechen. „Aber Tiere kennen alles, auch Trauer und Angst. Fast alle haben zum Beispiel Angst vor Schlangen.“
Nicht weit vom Ottergehege stehen drei Zebras in Reih und Glied, wie festgefroren. Kurz dahinter verbindet eine Holzbrücke den alten Teil des Zoos mit dem neueren. Rechts von der Brücke weist Gatza auf die Reste eines Nebeneingangs hin, ein Drehkreuz, das der Schriftsteller Walter Benjamin stets passiert habe, um den Zoo zu besuchen. „Das war vor dem Krieg. Wie sah es hier im Krieg aus?“ „Im April 45 trafen die Bomben den Zoo, fast alles wurde zerstört, auch der Spiegelsaal auf der Seite zur Budapester Straße, der in den zwanziger Jahren ein wichtiger gesellschaftlicher Ort von Berlin war. Etwa 150 Tiere überlebten, ein Elefant wurde sogar zum Aufräumen der Trümmer eingesetzt. Wiedereröffnet wurde der Zoo am 1. Juni des gleichen Jahres.“
„Und die Berliner gingen gleich wieder in den Zoo?“
„Vor allem Frauen kamen, Witwen, die Männer und Kinder verloren hatten. Sie bauten einen starken Kontakt zu den Tieren auf, adoptierten sie geistig und sprachen mit ihnen. In den 60er Jahren hatte der Zoo dann noch eine andere Bedeutung. Er führte Berlinern ihre eigene Situation vor Augen: ringsrum eingemauert zu sein und subventioniert werden zu müssen.“
Mathias Gatza weist nun auf die weißen Bänke hin, die von Privatpersonen gespendet wurden, oftmals von Frauen, wie er sagt. Sie säumen einen der zahlreichen Wege, die diesen Zoo wie einen Kontinent durchziehen. Irgendwann taucht das Orientalische Haus auf, es hat den Krieg als einziges überdauert. Antilopen sind darin zu Hause. Kurz später betreten wir das Affenhaus. Ein süßlich-muffiger Geruch zieht in die Nase. Das Licht lenkt die Blicke unmittelbar auf die Tiere. Ein Gorilla sitzt hinter einer Scheibe, wie in einem Riesenterrarium. Der Anblick erinnert an eine Szene in Gatzas Buch, in der der Ich-Erzähler ein Gorillababy beobachtet: Es legte die noch kleine Hand auf eine Scheibe und schaute danach lange auf den Abdruck, den sie hinterlassen hatte, dann auf die Handfläche, minutenlang, dann legte es sich die Hand auf den Bauch. Schaute die Hand an, dann den Bauch.
MATHIAS GATZA, DAUERKARTENBESITZER
Den Ich-Erzähler erinnert diese Szene an Hélène, Brauns Frau, die nach dem Tod ihres Mannes Kontakt zu ihm sucht und ihm kurzzeitig auch sehr nah kommt. Kaum hat er sie geküsst, wandern ihre Finger an die noch feuchte Stelle ihres Körpers. Das Kapitel endet mit dem Satz: Auf dieser Ebene können wir überhaupt nicht verschieden sein.
Mathias Gatza sagt, dass er im Affenkäfig oft ältere Frauen beobachte, vor allem in der Mittagszeit, wie sie stundenlang zu den Tieren sprechen, trotz schalldichter Scheibe. Dass es junge Mütter gibt, die ihren Kindern hier einen Befehl zum Staunen erteilen. Und dass Männer das Affenhaus gerne als Peepshow nutzen: „Die sitzen meistens mit Thermoskannen und Bier vor den Bonobos und schauen ihnen zu, wie sie Beischlaf haben. Sexualität hat bei den Bonobos eine wichtige Sozialfunktion.“
„Haben Sie eigentlich ein Lieblingstier, Herr Gatza?“
Er hält inne, schaut mich mit einem wachen, fast manischen Blick an und sagt: „Ich habe Angst vor Tieren. Ich traue mich nicht mal, ein Pferd anzufassen.“ Er erinnere sich an eine Situation im Raubtierhaus. Zwei Blinde seien mit ihrem Hund hereingekommen. Der Zoo hatte kurz zuvor neue Berberlöwen bekommen, die, kaum hätten sie den Hund gesehen, „so laut brüllten, dass dir die Ohren weggeflogen sind“. Die Besucher einschließlich der Kinder seien schreiend rausgerannt. Gatza sagt: „Das war hoch gruselig.“ Seit fast zwei Stunden spazieren wir nun durch den Zoo. Mathias Gatza hat in dieser Zeit mehrmals das Wort „Parallelwelt“ gebraucht.
Je mehr er erzählt, desto mehr spürt man, dass all diese Tiere Statisten in einer Oase der Abgeschiedenheit und Stille sind, die der Schriftsteller fast suchthaft aufsucht, um die inneren Stimmen für das Schreiben zu hören. Vor dem Vogelhaus scheint er ein wenig nervös zu werden. „Da müssen wir noch rein“, sagt er. Im Vogelhaus hat der Ich-Erzähler seines Romans Hélène kennen gelernt. Wir betreten ein 50er-Jahre-Refugium, moosbewachsene Fenster, modriges Holz, Palmengrün. Es riecht nach Wellensittichkäfig. Schräg oben sitzt ein Nashornrabe mit gelbbunten Backen. Neugierig schaut er auf uns runter, und kurz könnte man meinen, dass er den Mann im blauen Mantel als alten Bekannten ausmacht. Mathias Gatza setzt sich auf die Holzbank. Er lässt seine Blicke schweifen und schweigt zum ersten Mal an diesem Morgen. Fünf Sekunden, sechs, dann sagt er: „Hier habe ich das ganze Buch konzipiert. Es gab nie einen Ort in meinem Leben, wo ich besser nachdenken konnte.“ In seinem Roman heißt es: Zwei Soldatenkiebitze stolzieren vor meinen Schuhen auf und ab und picken an meinen gefrorenen Hosenbeinen, so nahe kommen sie erst nach Hunderten von Begegnungen.
Mathias Gatza hat (West-)Berlin in seinen 48 Jahren nicht oft verlassen. Er war in Norwegen und in Brandenburg, in Spanien, Frankfurt und Amsterdam. Er kennt die Welt aus Büchern. Und aus dem Zoo. Sein manischer Weg endet an einem Baum, der an einer Weggabelung steht. Runzelig die Haut, knorrig die Äste. „Diese Eiche ist aus dem Jahre 1460“, sagt Mathias Gatza, „da war Amerika noch nicht einmal entdeckt.“ Schon als Jugendlicher habe sie ihn fasziniert: der Umkreis von 800 Metern in jede Richtung ist die größte Nähe zu fast allen Tieren, die die Schöpfung hervorgebracht hat.
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