piwik no script img

In die Geschichte hineingefräst

LESUNGEN Die Literatour Nord schickt seit 22 Jahren Gegenwartsautoren mit Neuerscheinungen durch den Norden. Diesmal haben sich viele der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts verschrieben. Entstanden ist eine gelungene Melange aus Weltpolitik und Bodenständigkeit

VON PETRA SCHELLEN

„Und dann ist da noch ein anderes Geräusch. Und zwar das von meinem knurrenden Magen. Die Döner sind alle. Die Snickers sind alle. Ich überlege, wie tragisch das wäre, jetzt zu verhungern und niemandem von der Sache mit dem Wolf und dem Universum erzählen zu können. Dann fällt mir aber ein, das mir sowieso keiner glauben würde. Wölfe in der Lüneburger Heide sind ungefähr genauso wahrscheinlich wie Pumas.“

Er kommt ganz leicht und plaudernd daher, der neue Roman von Sabrina Janesch – dabei hat sie durchaus Tiefsinnigeres als das Trampen durch die Lüneburger Heide im Gepäck, wenn man ihren bisherigen literarischen Output betrachtet. Aber jetzt – und nicht nur für die im Oktober startende Literatour Nord, auf der sie ihn präsentiert – hat sie es mal mit einem Roadmovie versucht, das einen 17-Jährigen samt Onkel und Riesenhund durch die Lüneburger Heide fahren und vor der Vergangenheit fliehen lässt.

Das mit der Vergangenheit beschäftigt die in Gifhorn geborene Autorin seit Langem, und es hat sich immer wieder in ihre Werke eingeschrieben. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass sie 2009 erste Stadtschreiberin des heute polnischen Gdansk/Danzig war. In ihrem Roman „Ambra“ zum Beispiel ist sie den Spuren einer deutsch-polnischen Familie gefolgt, hat der Geschichte eine Prise Magie beigemischt sowie ein mysteriöses „dunkles Geheimnis“.

In ihrem Debütroman „Katzenberge“ von 2010 wiederum, für den sie den Mara-Cassens-Preis, den Nicolas-Born-Förderpreis sowie den Anna Seghers-Preis bekam, fährt sie durch Niederschlesien nach Galizien zum Grab ihres Großvaters und ist abermals auf der Suche nach einem nicht näher definierten Geheimnis.

Dieser Ansatz der Spurensuche in mystisch aufgeladenen Landschaften erinnert an die Stimmen eines Andrzej Stasiuk und einer Olga Tokarczuk, die nach dem Ende des Kommunismus das Ländliche – die Beskiden und das schlesische Eulengebirge sowie die im Kommunismus nicht wohlgelittenen regionalen Minderheiten wie Lemken und Huzulen – wiederentdeckten.

Da ist die entsprechende Spurensuche einer deutschen Autorin der konsequente nächste Schritt schichtweise abzudeckenden Vergangenheit, die topographisch und familiengeschichtlich in vernebelte Gegenden führt. „Danzig hat wieder eine deutsche literarische Stimme“ befand die FAZ, und wenn man das nicht revisionistisch liest, kann man sie getrost in eine Reihe stellen mit polnischen Autoren wie dem in Gdansk/Danzig lebenden Stefan Chwin, der über seine nach dem Zweiten Weltkrieg aus Litauen und Ostpolen vertriebenen Landsleute schreibt. Chwins Eltern gehörten dazu und kamen, wie die Protagonisten von Chwins Romanen und Erzählungen, unversehens in die von vertriebenen Deutschen zurückgelassenen westpolnischen Dörfer und Städte und fühlten sich unwohl in deren leeren Wohnungen.

Aber es geht noch weiter mit der europäischen Geschichte auf der diesjährigen Litertournord, die seit 1992 jährlich sechs deutsche Gegenwartsautoren mit Neuerscheinungen zur Lesereise lädt und am Ende einen Preis auslobt. Moderiert werden die Lesungen von Literaturprofessoren, veranstaltet wird das Ganze von Kultureinrichtungen, Buchhandlungen, Stiftungen und Universitäten.

Zweiter im Bunde ist dieses Jahr Michael Köhlmeier, der in „Zwei Herren am Strand“ über die einstige Freundschaft zwischen Winston Churchill und Charlie Chaplin schreibt. Der Komik-Tramp und der Staatsmann begegnen sich in einem Gang durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts; ein Plot, der dem „Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ ähnelt – einem ironischen 20.-Jahrhundert-Parcours mit dem der Schwede Jonas Jonasson ab 2011 lange die Bestsellerlisten anführte.

Auch der Journalist Eberhard Rathgeb hat sich in „Das Paradiesghetto“ in die Historie hineingefräst, in die autobiographische noch dazu, denn die Geschichte eines Menschen – im Buch eine Frau –, dessen Eltern vor den Nazis nach Argentinien flohen und die später nach Deutschland zurückkehren, ist seine eigene. Und vielleicht ist auch die zentrale Frage seiner Protagonistin die seinige: ob angesichts des Holocaust nur Unwissenheit und Lüge vor seelischem Unglück schützen.

Aber Geschichte ist nicht nur die große weite Welt, sondern sie ist auch klein und übersichtlich. Aber nicht nebensächlich, denn der heranzoomende Blick auf den Einzelnen macht das Mikro- zum Makroskop und erlaubt Verdichtung der ganz eigenen, fast schmerzhaft berührenden Art.

„Ein ganzes Leben“ heißt zum Beispiel der neue Roman des zur Literatour Nord geladenen Robert Seethaler, und das Thema ist denkbar schlicht: Um die Vita eines Mannes geht es da, der Hilfsknecht in einem Tal wird und später eine der ersten Bergbahnen baut – in diesem bodenständigen Ansatz dem Roman „Die Unsichtbaren“ verwandt, in dem der Norweger Roy Jacobsen eine Familiengeschichte auf einer Schäreninsel nachzeichnet. Seethalers Protagonist begegnet in „Ein ganzes Leben“ seiner großen Liebe, verliert sie wieder und lässt im Alter all das leicht verwundert Revue passieren, staunend über das Ertragene.

Angesichts dessen wirkt Peter Roseis „Die Globalisierten“, eine Satire auf die Globalisierung, fast zu schrill; umso politischer kommt Lutz Seiler daher, der bislang stets Lyrik schrieb und jetzt eine Art Wenderoman verfasste. „Kruso“ heißt er und erzählt von der Freundschaft zweier auf der Insel Hiddensee Gestrandeter.

Das alles geschieht im Jahr 1989 samt seinen multiplen politischen und ideologischen Verwerfungen. Konträre Begriffe von Freiheit prallen in den Gesprächen von Seilers Protagonisten aufeinander. Und eine Katastrophe gibt es auch.

Literatour Nord durch Bremen, Hannover, Lübeck, Lüneburg, Oldenburg, Rostock: 19. 10.  2014 bis 10. 2. 2015

www.literatournord.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen